Weil sie letzte Mahnungen, Einschreiben und behördliche Schreiben ignoriert, nicht verstanden oder die Briefe erst gar nicht geöffnet haben, müssen alljährlich Hunderte Menschen in Baden-Württemberg ins Gefängnis, obwohl sie zeitlebens nichts mit Kriminellen und am Hut hatten oder anderweitig straffällig wurden: Sie müssen Ersatzfreiheitsstrafen absitzen, weil sie gerichtliche Strafbefehle nicht bezahlt haben.

Nicht nur die Betroffenen, sondern auch das Land kommen diese Fälle teuer zu stehen. Die baden-württembergische Justizministerin Marion Gentges (CDU) will deshalb die Programme ausbauen, um diese Ersatzfreiheitsstrafen zu vermeiden oder zu verkürzen.

Bußgeldbescheide zu ignorieren, ist keine gute Idee.
Bußgeldbescheide zu ignorieren, ist keine gute Idee. | Bild: Jens Büttner

Ein typisches Beispiel: Die Seniorin Elsa Z.. Sie ist juristisch ein völlig unbeschriebenes Blatt und über 70 Jahre alt, als sie 2020 beim Ausparken mit dem Auto ein Verkehrsschild beschädigt und einfach davonfährt. Ein kleiner Sachschaden, der aber nicht unbeobachtet blieb. Auf behördliche Schreiben und einen erteilten Strafbefehl über 20 Tagessätze zu je 40 Euro reagiert Elsa Z. nicht.

Auch die Kontaktversuche und Anschreiben der von der Staatsanwaltschaft beauftragten Bewährungs- und Gerichtshilfe Baden-Württemberg (BGBW) laufen ins Leere. Hausbesuche erlauben die Corona-Lage nicht. Jetzt nimmt die Justiz ihren Lauf, wie Christian Ricken, Vorstand für Sozialarbeit der Bewährungs- und Gerichtshilfe Baden-Württemberg mit Sitz in Stuttgart, diesen echten Fall anonymisiert schildert. Der Rentnerin drohen 20 Tage Gefängnis – pro Tagessatz ein Hafttag. Nicht nur für die Seniorin eine teure Rechnung – auch das Land zahlt erheblich drauf. Denn ein Hafttag schlägt im Landeshaushalt mit gut 120 Euro zu Buche.

Vielen wachsen Probleme über den Kopf

„Wenn Geldstrafen nicht beglichen werden, ist der Grund dafür in den überwiegenden Fällen keine Verweigerungshaltung, sondern schlichtweg Überforderung“, sagt Ricken. „Vielen Menschen wachsen die Probleme über den Kopf, sie haben Schwierigkeiten, die Situation, in der sie sich befinden, in vollem Umfang zu begreifen oder sind sprachlich nicht in der Lage, behördlich formulierte Schreiben zu erfassen.“

Diesen Menschen vor der Inhaftierung noch die Chance zu geben, durch Tilgung oder gemeinnützige Arbeit die Haftstrafe zu vermeiden, nutze im Erfolgsfall auf vielen Ebenen, betont auch Ricken: „Die Betroffenen selbst müssen nicht in Haft, in den Justizvollzugsanstalten stehen die Plätze für die zur Verfügung, die tatsächlich zu einer Haftstrafe verurteilt wurden und die hohen Kosten, die bei einer Inhaftierung entstehen, werden vermieden oder reduziert.“

Wenn letzte Mahnungen ignoriert werden, droht mehr als nur eine Stromabschaltung.
Wenn letzte Mahnungen ignoriert werden, droht mehr als nur eine Stromabschaltung. | Bild: Jens Büttner

Das Land unternimmt bereits seit Jahren eine Reihe von Anstrengungen, um Fälle wie den von Elsa Z. zu vermeiden. Allein im Jahr 2020 wurden in dem bereits seit Jahren erfolgreich etablierten Programm „Schwitzen statt Sitzen“, bei dem Geldstrafen von Schuldnern abgearbeitet werden können, nach Angaben des Justizministeriums im Bereich der Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen 122.550 Hafttage und damit rund 12,2 Millionen Euro eingespart.

„Ich bin überzeugt: Es braucht die Möglichkeit der Ersatzfreiheitsstrafen als Druckmittel, damit Geldstrafen bezahlt werden. Aber dennoch gilt: Diese Menschen sind zu Geldstrafen verurteilt worden und sollten daher eigentlich nicht ins Gefängnis. Um die Anzahl der Gefangenen mit Ersatzfreiheitsstrafen zu reduzieren, gibt es in Baden-Württemberg verschiedene Modelle, die ich in den kommenden Jahren soweit möglich noch ausbauen möchte“, sagt Justizministerin Gentges.

Ein Hafttag kostet den Staat über 120 Euro

Dazu gehört auch das Projekt „Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen durch aufsuchende Sozialarbeit“, das nach einer Pilotphase im November 2020 landesweit angelaufen ist und zu dem das Justizministerium nun eine erste Jahresbilanz vorgelegt hat. Demnach wurden in den ersten zwölf Monaten der landesweiten Umsetzung seitens der Staatsanwaltschaften 6721 Gerichtshilfeaufträge mit einem Volumen von 413.836 Hafttagen erteilt.

In 2784 Fällen – also annähernd einem Drittel – kam es nach einer Kontaktaufnahme der BGBW mit den Schuldnern zu Tilgungsvereinbarungen, mit denen über 123.204 potentielle Hafttage eingespart wurden, wie das Justizministerium mitteilt.

Das Vorgehen dabei: Die Bewährungs- und Gerichtshilfe untersucht bei Strafbefehlen in bestimmten Deliktgruppen zunächst den finanziellen Hintergrund der Schuldner und informiert diese dann bei Hausbesuchen über die Möglichkeit von Ratenzahlungen und Ableistung gemeinnütziger Arbeit. Das Programm soll künftig auch durch den Einsatz von ehrenamtlichen Helfern bei der Bewährungs- und Gerichtshilfe noch ausgebaut werden. Justizministerin Gentges: „Jeder vermiedene Hafttag spart dem Steuerzahler bares Geld.“

„Day-by-Day“ Modell

Seit Juli 2021 gibt es landesweit eine neue Rechtsgrundlage, nach der Verurteilte ihre Geldstrafe in Baden-Württemberg im „Day-by-Day“-Modell auch nach Haftantritt durch gemeinnützige Arbeit inner- oder außerhalb der Justizvollzugsanstalten tageweise tilgen können. Dies betrifft in erster Linie Geldstrafenschuldner, die die Ersatzfreiheitsstrafe bereits angetreten haben oder sich in anderer Sache im Justizvollzug befinden und für die das Projekt „Schwitzen statt Sitzen“ nicht in Betracht kommt. Sobald es pandemiebedingt möglich ist, sollen Pilotprojekte zur Ableistung gemeinnütziger Arbeit in einzelnen Justizvollzugsanstalten stattfinden.

Echte Fälle, echte Hilfe

Drei Fälle aus der Praxis der Bewährungs- und Gerichtshilfe Baden-Württemberg (BGBW), bei denen die Gerichtshelfer die Schuldner dabei unterstützen konnten, die Haftstrafen zu vermeiden und eine Lösung zu finden. Alles Namen sind anonymisiert.

Ratenzahlung – Martha M. hat nach schwerer Krankheit und damit verbundener Medikamenteneinnahme alles um sich herum schleifen lassen. Sie hat sich nicht um die Post gekümmert, keine Briefe geöffnet, dadurch ihre Wohnung verloren, kommt in einer Notunterkunft unter. Dann muss sie feststellen, dass sie wohl sehr wichtige Post nicht geöffnet hat – wegen eines Diebstahls wurde sie zu einer Geldstrafe in Höhe von 30 Tagessätzen zu 40 Euro verurteilt – 1200 Euro, die sie nicht bezahlen kann. 14 Tage nach der Zustellung der Ladung zum Haftantritt erhält sie Post von der Bewährungs- und Gerichtshilfe, es folgt ein persönliches Gespräch, in dem Martha M. ihre Lage schildert.

Gemeinnützige Arbeit kann sie nicht leisten, aber eine Rate in Höhe von 25 Euro pro Monat aufbringen. Die Gerichtshilfe beantragt für sie bei der Staatsanwaltschaft die Ratenzahlung und begründet, warum keine andere Tilgungsform in Frage kommt. Derzeit wird die Bewilligung erwartet.

Gemeinnützige Arbeit – Stefan W. hat eine Geldstrafe wegen Erschleichen von Leistungen erhalten – er war ohne Fahrkarte in die Straßenbahn eingestiegen. Laut Strafbefehl entstand ein Schaden von 2,60 Euro, für den Geldstrafe in Höhe von 400 Euro verhängt wurde. Stefan W. bezieht Arbeitslosengeld in Höhe von rund 440 Euro, davon kann er die Geldstrafe nicht bezahlen. Er öffnet zwar die Briefe der Staatsanwaltschaft, versteht aber nicht, welche Möglichkeiten er hat, die Geldstrafe zu tilgen – und was andernfalls die Folgen sind.

Als er die Ladung zum Antritt der Ersatzfreiheitsstrafe erhält, fällt er aus allen Wolken. Die Staatsanwaltschaft hat der Ladung zum Haftantritt einen Flyer der Bewährungs- und Gerichtshilfe beigelegt. Auf diesem steht in kurzen, klaren Sätzen „Geldstrafe? Drohende Haft? Sie können das vermeiden!“ und Kontaktdaten der Bewährungs- und Gerichtshilfe.

Stefan W. meldet sich und will schnellstmöglich alles in die Wege leiten, um eine Haftstrafe zu vermeiden. Nach Beratung entscheidet er sich für gemeinnützige Arbeit, um die Geldstrafe zu tilgen, und erhält Hilfe beim Antrag. Von den Vereinen der freien Straffälligenhilfe wird er an eine Einsatzstelle vermittelt, wo er die auferlegten gemeinnützigen Arbeitsstunden ableistet.

Ratenzahlung – Ursula K. hat in den Wintermonaten Heizöl bestellt, liefern lassen und anschließend die Heizöllieferung nicht bezahlt. Dafür wurde eine Geldstrafe in Höhe von insgesamt 900€ verhängt. Auf die Post der Staatsanwaltschaft hat sie nicht reagiert. Die Staatsanwaltschaft beauftragte die Bewährungs- und Gerichtshilfe, um eine Haftstrafe zu vermeiden.

Bei einem Hausbesuch schildert Ursula K. ihre Lebenssituation: Sie ist Mutter von drei Kindern, alleinerziehend, arbeitet 75 Prozent und verdient netto 1500 Euro. Sie selbst leidet nach einem Burn Out an Depressionen und ist in psychologischer Behandlung. Gemeinsam mit der Bewährungs- und Gerichtshilfe stellt sie einen Antrag auf Ratenzahlung von 50 Euro monatlich bei der zuständigen Staatsanwaltschaft.