Was er schreibt, klingt verzweifelt. Kohdadad Ataiy sitzt im afghanischen Herat fest. Die Taliban sind überall. Der 25-Jährige kann nicht mehr zur Arbeit gehen, denn er ist Soldat – und die afghanische Armee hat sich den Taliban kampflos ergeben.

„Weder ich noch meine Familie sind in Sicherheit“, schreibt er dem SÜDKURIER auf Deutsch über WhatsApp. Es ist seine einzige Verbindung zur Außenwelt. „Ich kann nicht glauben, dass die Taliban so schnell alles eingenommen haben. Ich will von hier weg“, schreibt der Oberleutnant verzweifelt. Er habe alles versucht, um nach Deutschland zu kommen, erfolglos.

Eine Aufnahme von 2016 in der Infanterieschule Hammelburg, wo Khodadad Ataiy unter anderem seine Ausbildung machte.
Eine Aufnahme von 2016 in der Infanterieschule Hammelburg, wo Khodadad Ataiy unter anderem seine Ausbildung machte. | Bild: Khodadad Ataiy

Inzwischen wird das Geld knapp. „Ich habe noch ein altes Auto, vielleicht tausend Euro wert, aber das will jetzt auch keiner.“ Ataiy hat noch etwa 100 Dollar, sagt er. Damit muss er nicht nur sich, seine Frau und seinen zweijährigen Sohn durchbringen, sondern auch die Frau und vierjährige Tochter seines Bruders Maudadad, der 2019 von den Taliban durch einen Anschlag ermordet wurde.

Ein Bild aus glücklicheren Tagen: Gemeinsam mit seinem Bruder Mauladad Ataiy (rechts) machte Oberleutnant Khodadad Ataiy eine Ausbildung ...
Ein Bild aus glücklicheren Tagen: Gemeinsam mit seinem Bruder Mauladad Ataiy (rechts) machte Oberleutnant Khodadad Ataiy eine Ausbildung bei der Bundeswehr, unter anderem in Donaueschingen. Die Aufnahme entstand 2015 in Würzburg, 2016 kehrten beide nach Afghanistan zurück, um für ihr Land zu kämpfen. Mauladad wurde 2019 von den Taliban ermordet. | Bild: Khodadad Ataiy

Ataiy hat keine Chance auf ein Visum, um außer Landes zu kommen. Für das Schutzprogramm des Bundes für afghanische Ortskräfte kommt er nicht in Frage. Dabei hat er bei der Bundeswehr in Deutschland bis 2016 eine Ausbildung gemacht, bevor er in sein Land zurückkehrte und dort Oberleutnant in der Armee wurde. Über WhatsApp schickt er Dokumente und Bilder, die das belegen.

Unterstützung aus Donaueschingen

In Donaueschingen versucht die ehrenamtliche Helferin Mechthild Zimmermann, sich für ihn stark zu machen. Die 66-Jährige lernte den jungen Mann während seiner Ausbildung bei der Bundeswehr kennen, beide engagierten sich ehrenamtlich in der Donaueschinger Landeserstaufnahmeeinrichtung – Ataiy gab seine Deutschkenntnisse an Flüchtlinge weiter.

Oberleutnant Khodadad Ataiy: Der 25-Jährige sitzt in Herat in Afghanistan fest. Er hatte bei der Bundeswehr eine Ausbildung gemacht, um ...
Oberleutnant Khodadad Ataiy: Der 25-Jährige sitzt in Herat in Afghanistan fest. Er hatte bei der Bundeswehr eine Ausbildung gemacht, um in Afghanistan der Armee beizutreten. Für das Schutzprogramm kommt er trotzdem nicht in Frage. Nun muss er um sein Leben bangen – und das zweier Familien. | Bild: Khodadad Ataiy

Zimmermann bittet um Hilfe. Sie schreibt Briefe an Politiker, Asylhilfsorganisationen, ans Auswärtige Amt. Doch da heißt es nur, „dass seine Lebensumstände und die seiner Familie sicherlich besorgniserregend sind, jedoch nicht als singuläres Einzelschicksal bewertet werden können, das sie von anderen vergleichbaren Ausländern in Afghanistan unterscheidet.“ Hilfe für Ataiy wird es also nicht geben.

Zimmermann wendet sich an den SÜDKURIER. Wir nehmen Kontakt zu Ataiy auf. Er reagiert sofort. „Können Sie mir helfen?“ ist eine seiner ersten Fragen.

Khodadad Ataiy 2015 mit Kameraden in Donaueschingen bei einer Übung zu seiner Ausbildung als Oberleutnant.
Khodadad Ataiy 2015 mit Kameraden in Donaueschingen bei einer Übung zu seiner Ausbildung als Oberleutnant. | Bild: Khodadad Ataiy

Gefangen in Herat

Er erzählt, was er erlebt hat, wie sich abgezeichnet hat, was kommen würde. Wie korrupt die Armee in Afghanistan ist, vor allem in der Führungsebene, war eine der bitteren Lektionen seines Engagements. „Ich habe mehrmals erlebt, wie 2017 das Korps in Herat keine Kämpfe geführt hat“, schreibt Ataiy uns. Jetzt sind die Taliban überall, durchsuchen Häuser nach Beweisen für Kollaboration mit dem „Feind“.

Doch die Flucht außer Landes sei kaum möglich, schon aus der Stadt herauszukommen, sei schwierig, schreibt Ataiy. Sein Haus musste er schon vor Tagen verlassen, ist anderswo in der Stadt untergetaucht. Wenn das Geld ausgeht, wird er irgendwann sein Versteck verlassen müssen. Wie es dann weitergeht? „Ich habe keine Ahnung“, schreibt er.

Aus der Gefahrenzone

Saifulha Mohmmadi arbeitete viele Jahre als Übersetzer für die Bundeswehr. Noch rechtzeitig wurden er und seine Familie außer Landes ...
Saifulha Mohmmadi arbeitete viele Jahre als Übersetzer für die Bundeswehr. Noch rechtzeitig wurden er und seine Familie außer Landes gebracht. Doch mehrerer seiner Kollegen sitzen in Afghanistan fest – mit einem Visum, aber ohne Aussicht auf einen rettenden Flug. | Bild: Moll, Mirjam

Ortswechsel. Radolfzell am Bodensee. Saifulha Mohmmadi steht mit einer Zigarette vor seiner Unterkunft, die seit etwa vier Wochen sein neues Zuhause ist. Der 31-Jährige ist mit seiner Frau Bavani (22) hergekommen, die beiden haben eine kleine Tochter – Hanya ist neun Monate alt. Wenn er von ihr spricht, huscht ein Lächeln über das Gesicht des Mannes. „Sie ist so glücklich hier“, betont er immer wieder. Er selbst wirkt ein wenig verloren in dieser neuen Umgebung, die so anders ist als alles, was er bislang kannte.

Bis vor gut einem Monat hat Mohmmadi für die Bundeswehr übersetzt, vor allem in Masar-i-Scharif, früher auch in Kundus – vor allem im Beratungsteam, aber auch bei Patrouillen. Mohmmadi spricht Englisch, außerdem Dari (Persisch) und Paschto, die beiden offiziellen Landessprachen, sowie Urdu, eine der Sprachen in Pakistan und einigen Bundesstaaten Indiens. Als Kind lebte er für kurze Zeit in Pakistan, bevor er mit seiner Familie nach Kabul zog, dort lernte er Englisch. „Urdu habe ich über Filme gelernt“, sagt er. Mit seinem Profil war er für die Bundeswehr ideal als Übersetzer.

Organisierte Flucht

Sechs Monate, bevor die Bundeswehr abzog, sei er informiert worden, erzählt er. Trotzdem seien drei oder vier Anträge auf ein Visum abgelehnt worden, bis er schließlich die Zusage bekam. Er bereitete die Reise vor, die kleine Familie konnte nur das Nötigste mitnehmen. Er wurde sogar einmal geimpft, doch ein Kamerad steckte ihn mit Corona an, erzählt er. Fast zwei Wochen lag er mit schwerem Fieber zu Hause. „Ich hatte solche Schmerzen“, sagt er heute.

Saifulha Mohmmadi mit seiner Tochter Hanya auf dem Balkon der Radolfzeller Flüchtlingsunterkunft.
Saifulha Mohmmadi mit seiner Tochter Hanya auf dem Balkon der Radolfzeller Flüchtlingsunterkunft. | Bild: Moll, Mirjam

Am 13. Juli konnte er mit seiner Familie Afghanistan verlassen. Sie kommen in Frankfurt an, verbringen eine Nacht irgendwo, bevor sie nach Radolfzell gebracht werden. Nach zwei Wochen Quarantäne dürfen sie in die Flüchtlingsunterkunft einziehen. Es ist ungewohnt, mit anderen zusammenzuleben, sagt er, sich Küche und Bad zu teilen – „das war anfangs schwer, so haben wir noch nie gelebt.“ Aber Mohmmadi ist dankbar, dass er rechtzeitig aus dem Land kam. Alles andere scheint für ihn noch nicht greifbar.

Sorge um das Schicksal der anderen

Vier seiner Kollegen bleiben zurück. Einer von ihnen wollte noch heiraten – ein letztes Fest mit der Familie feiern, alle noch einmal sehen. Jetzt sitzt auch er fest, erzählt Mohmmadi. Er sorge sich um sie, sagt er. Trotzdem glaubt er noch an Afghanistan. „Ich hoffe, es wird eine Lösung geben. Die Menschen sind müde vom Krieg und der Unsicherheit.“

Unsicherheit erlebt nun auch Mohmmadi. Sein früherer Job ist weg. Vielleicht könnte er im Baugewerbe arbeiten, sagt er, da hat er früher gearbeitet, bevor er für die Bundeswehr übersetzte. Seine Frau hat keine Ausbildung, will hier in Deutschland einen Sprachkurs besuchen. Mohmmadi sieht sich jedoch als Alleinversorger der Familie und will so schnell wie möglich Arbeit und ein eigenes Zuhause finden.

Ein Neuanfang – mitten im Leben

Nebenan wohnt Ahdia Nayab Hafizi mit ihrem Mann Sahrab (32) und ihrem dreijährigen Sohn. Die 25-Jährige ist Chirurgin, in Masar-i-Scharif arbeitete sie im Krankenhaus, war gerade im zweiten Jahr ihrer Spezialisierung nach sieben Jahren Medizinstudium. Als finanzielle Überbrückung begann sie als Übersetzerin für die Bundeswehr im größten Feldlager in Afghanistan, Camp Marmal, nahe Masar-i-Scharif, zu arbeiten – im Bereich Gleichberechtigung (Gender Advisory). Doch mit Aufkommen der Coronakrise wurde das Camp abgeriegelt, die Verträge schließlich eingestellt. Doch die Taliban hatten sie da längst im Visier.

Ahdia Nayab Hafizi ist Chirurgin in der praktischen Ausbildung. Zusätzlich war die 25-Jährige als Übersetzerin für die Bundeswehr aktiv. ...
Ahdia Nayab Hafizi ist Chirurgin in der praktischen Ausbildung. Zusätzlich war die 25-Jährige als Übersetzerin für die Bundeswehr aktiv. Bis sie verfolgt und bedroht wurde. Mit ihrem Mann Sahrab und ihrem dreijährigen Sohn kam sie schon am 22. Juni nach Deutschland. | Bild: Moll, Mirjam

Hafizi wurde verfolgt, ein Fremder rief sie immer wieder an, beschimpfte und bedrohte sie schließlich auf offener Straße. „Er hat gesagt, ich hätte es nicht verdient, zu leben“, erzählt die 25-Jährige. Die Worte haben sich ihr eingebrannt. Der Blick der sonst so fröhlich wirkenden jungen Frau wird düster. Es ist der Moment, der ihr Leben veränderte: Sie musste fliehen. Hafizi wirkt nicht wie eine, die sich einschüchtern lässt. Aber die Sicherheit ihrer Familie ließ nichts anderes zu. Das sahen auch die deutschen Sicherheitskräfte so. „Weil ich eine Frau bin. Da machen die Taliban nicht lange rum, die werden umgebracht“, sagt sie und atmet hörbar aus.

Mit ihrem Lebensstandard in Afghanistan waren sie zufrieden

„Wir hatten ein gutes Leben in Afghanistan“, betont die selbstbewusste junge Frau. Sie spricht Englisch, aber kann auch schon ein wenig Deutsch. Die Sprachlevels A1 und A2 hat sie schon, dabei fängt ihr Sprachkurs offiziell erst im September an. Die angehende Chirurgin will ihre Spezialisierungsprogramm wieder aufgreifen, dafür muss sie Deutsch können. „Mit harter Arbeit schafft man alles“, gibt sie sich überzeugt. „Dann ist nichts zu schwierig.“ Sie will kein Mitleid, sondern Respekt. Sich hier ein neues Leben aufbauen.

Ihr Mann ist Bauingenieur, die Familie war gut situiert, auch Hafizis Familie: Ihre Schwestern sind Richterinnen, verurteilten zum Teil Taliban zum Tod. Jetzt sind sie untergetaucht, teils in Kabul, teils in Masar-i-Scharif. Ihre beiden Brüder, ein Ingenieur und ein Jurastudent, ihre Eltern – sie Direktorin einer öffentlichen Schule, er Mitarbeiter bei einem Kreditinstitut (bei den Taliban verboten): Sie alle schweben nun in Lebensgefahr. „Sie haben keine Zukunft mehr“, sagt Hafizi. Jeden Tag versucht sie Kontakt zu ihnen halten. Nachts ist sie oft lange wach, um mit ihnen zu telefonieren.

Ahdia Nayab Hafizi ist seit Ende Juni mit ihrer Familie in Deutschland. Die junge Ärztin will ihre praktische Ausbildung hier ...
Ahdia Nayab Hafizi ist seit Ende Juni mit ihrer Familie in Deutschland. Die junge Ärztin will ihre praktische Ausbildung hier fortsetzen. Und sich hier ein neues Leben aufbauen. | Bild: Moll, Mirjam

Weder Hafizi noch ihr Mann haben damit gerechnet, dass die Taliban so schnell an die Macht gelangen konnten. „Daran hat niemand geglaubt“, sagt Sahrab Hafizi. Aber das Problem sei die Korruption in der afghanischen Armee gewesen. Sie habe 20 Jahre Entwicklungs- und Aufbauarbeit in wenigen Wochen zunichte gemacht.

„Will nicht das Leben eines Flüchtlings führen“

Das Leben in Afghanistan wird nicht mehr zurückkommen, das wissen beide. Aber Ahdia Hafizi hat neue Pläne geschmiedet. „Ich will nicht das Leben eines Flüchtlings führen“, betont sie. „Ich will eine exzellente Chirurgin werden.“ Sie will Menschen helfen. Und das könne man überall. „Ich sehe eine strahlende Zukunft“, sagt sie. Dafür will sie all ihre Energie aufwenden. Nach vorne blicken.

Soldat Ataiy in Herat hofft indes weiter auf Hilfe. Länger als einen Tag kann er kaum planen. Seine Zukunft hängt an einem seidenen Faden.