Auf dem grau-polierten Grabstein auf dem Friedhof von Herdwangen ist Folgendes zu lesen: „Emil Lorenz Stehle, Ehrenbürger“. Der Schriftzug für den 2017 verstorbenen Sohn der Gemeinde Herdwangen ist tief eingraviert. Stehle war ein berühmter und verdienter Mann in der katholischen Weltkirche, und Herdwangen (Kreis Sigmaringen) war bisher stolz auf den Bauernsohn aus dem Ortsteil Mühlhausen, der bis es bis zum Bischof in Lateinamerika gebracht hat.
Doch ist dieser Grabstein nicht mehr auf dem Stand der Dinge: Die selten verliehene Würde des Ehrenbürgers ist nach Einschätzung der Verwaltung mit dem Tod des Geehrten erloschen. Auch eine andere Ehre wird dieser Tage gelöscht und neu beschriftet: Die Straße im Neubaugebiet, die bisher Emil-Stehle-Straße heißt, firmiert nun als Dietrich-Bonhoeffer-Straße. Das beschloss der Gemeinderat mit breiter Mehrheit bei einer Enthaltung.
Das Gremium reagierte damit auf die begründeten Vorwürfe gegen Bischof Stehle wegen Missbrauchs, die in der Berichterstattung des SÜDKURIER breit dokumentiert worden war.
Die Gemeinde hat sich intensiv mit diesen Vorgängen um den bekannten Bürger und katholischen Geistlichen befasst. Dabei stieß sie auf den Abschlussbericht der Expertengruppe zum Projekt „Wissen Teilen“, in dem es um die Aufklärung und Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt im Bistum Hildesheim ging.
Aus diesen Unterlagen wird deutlich, dass Emil Stehle im Jahr 1976 in seiner damaligen Funktion als Geschäftsführer von „Fidei Donum“ geholfen haben soll, dass Priester nicht verfolgt werden können, die sich wegen Missbrauchs verantworten sollten. Die Organisation war eigentlich für das Entsenden von europäischen Geistlichen in die damalige Dritte Welt zuständig – nicht für Fluchthilfe.
Nachdem diese Vorwürfe publik geworden waren, reagierten Verwaltung und gewählte Vertreter von Herdwangen-Schönach. Der Gemeinderat sah keinen Anlass mehr, den Lateinamerika-Bischof weiter hochzuhalten. Gemeinderat Peter Atzenhofer fasst es so zusammen: „Im Hier und Jetzt können wird diese Verfehlungen nicht befürworten, was wir mit einer Benennung der Straße indirekt tun würden.“
Neue Erkenntnisse geben den Gemeinderäten offenbar recht: Nach jüngsten Recherchen von „report München“ haben sich inzwischen mehr als zehn Frauen bei kirchlichen Stellen gemeldet und Stehle des Missbrauchs bezichtigt. Bisher war von acht Frauen die Rede (und nie von Kindern oder Jugendlichen).
Ins Rollen brachte das eine Studie einer unabhängigen Expertengruppe um Niedersachsens Ex-Justizministerin Antje Niewisch-Lennartz (Grüne). Inzwischen beschäftigt sich auch die Deutsche Bischofskonferenz mit der Amtsführung von Emil Stehle.
In den Fokus gerät inzwischen die massive Hilfe, die Emil Stehle geistlichen Tätern zukommen ließ. Er soll seine machtvolle Stellung in Südamerika dazu benutzt haben, um straffällig gewordene deutsche Priester dort unterzubringen und sie damit der deutschen Justiz zu entziehen.
Recherchen der ARD weisen darauf hin, dass der damalige Adveniat-Geschäftsführer Stehle nicht nur in einem Fall auffällige Priester aus der Schusslinie nahm. Zeitweise habe er Mittel aus dem Adveniat-Fonds benutzt, um mehrere gestrandete Priester zu versorgen, die in Deutschland wegen Missbrauchs belangt wurden. Adveniat ist im Kern ein katholisches Hilfswerk, das arme Gemeinden in Südamerika unterstützen soll.
Das Hilfswerk hat sich bereits im Herbst 2021 für Teile des Handelns von Emil Stehle entschuldigt. Dass er durch seine Gewandtheit und diplomatische Kunst viel Gutes bewirkt hat, bleibt als Leistung dennoch stehen. In diesem Sinne äußert sich auch Gemeinderat Frieder Kammerer gegenüber dem SÜDKURIER. Er wies darauf hin, dass bei allen Vorwürfen noch immer sehr viel Gutes auf der Haben-Seite stehen bleibe.