Herr Hengel, die Politik will die bisherigen Corona-Schutzmaßnahmen nahezu ersatzlos aufheben. Was halten Sie als Virologe davon? Ist das nicht verfrüht?
Man muss nüchtern sehen, dass die Inzidenzen nicht mehr fallen, sondern eher steigen. Manche Kollegen sprechen schon von einer sechsten Welle. Sie wird getrieben von der neuen Untervariante BA2. Breitet sie sich weiter aus, ist zu befürchten, dass die Zahlen noch weiter steigen, wenn die Schutzmaßnahmen nun beendet werden. Ich halte die Beendigung für verfrüht.
Was wäre aus Ihrer Sicht angebracht?
Der Bund proklamiert eine Normalität, die nur noch Corona-Hotspots als Ausnahmeregelung vorsehen. Tatsächlich scheint es aber so, dass wir eine breite Welle bis in den Sommer hinein bekommen. Wie definiert man denn da Hotspots? Und sind die Kommunen wirklich in der Lage, die erforderlichen Maßnahmen fachlich, organisatorisch und rechtlich umzusetzen? Diesen Umständen werden die aktuellen Entscheidungen nicht gerecht. Zudem ist das neue Gesetz befristet. Was mir fehlt, nach mehr als zwei Jahren Pandemie, ist, dass man langfristiger denkt. Wann hören wir auf, nur kurzfristig zu handeln, und fangen an, Grundsätzliches zu lernen? Es gibt einiges, was man in Deutschland besser machen kann und muss.
Was wäre das?
Nur als Beispiel: Wir brauchen bessere Schnelltests. Die, mit denen wir bisher arbeiten, werden nicht nach den sonst gültigen wissenschaftlichen Kriterien für Medizinprodukte zugelassen und ihre Qualität wird nicht kontrolliert. Das muss sich ändern. Wir brauchen auch jenseits der PCR verlässliche Tests.

Apropos Tests: Wieso stecken sich Geimpfte an, teils sogar mehrfach trotz Booster-Impfung? Die Menschen fragen sich doch langsam, ob die Impfung überhaupt etwas gebracht hat …
Ja, es macht mir Sorgen, dass das Schutzversprechen der Impfung gelitten hat und die Impfquote kaum mehr steigt, trotz des neuen Impfstoffs von Novavax. Ich bin ganz entschieden für die Impfung. Aber gerade deswegen möchte ich bessere Impfungen. Der Omikron-Impfstoff wurde als Impfstoff 2.0 angekündigt, davon ist jetzt keine Rede mehr, weil das Virus schon viel weiter ist.
Wie wirksam sind die bisherigen Impfstoffe denn jetzt noch?
Es hängt davon ab, was gemessen wird. Beim Schutz vor einem tödlichen Verlauf sind die Impfstoffe nach wie vor sehr potent. Bei den Hospitalisierungen aber schon etwas weniger und auch weniger beim Schutz vor Erkrankung. Beim Schutz vor einer Infektion sind die Impfstoffe leider nicht mehr so potent.
Wie können bessere Impfstoffe entwickelt werden?
Die Impfstoffhersteller sollten sich nicht Lorbeerkränze flechten, sondern neu ansetzen, um bessere Impfstoffe zu entwerfen. Wir sehen, wie sich das Virus mit rasender Geschwindigkeit weiterentwickelt. Omikron gibt es schon nicht mehr, sondern Subvarianten, die sich immer weiter auseinanderentwickeln. Deshalb wird es auch immer realistischer, dass man sich mehrmals mit Omikron ansteckt, aber eben mit unterschiedlichen Varianten.
Und wie gewinnen wir gegen das Virus?
Wir brauchen Impfstoffe, die eine breitere Immunität erzeugen, und zwar eine Immunität durch T-Zellen. Bisher setzen wir vor allem auf Antikörper. Aber das Virus läuft den Antikörpern permanent davon. Wir müssten also andere Antigene in den Impfstoff einbauen, nicht nur das Stachelprotein, das sich ständig verändert.
Wieso wurde das noch nicht getan?
Die Wissenschaft und die Politik müssen die Impfstoffindustrie dazu bringen, neue Konzepte zu erproben. Die ersten Impfstoffe gegen Covid wurden politisch, moralisch und finanziell stark gefördert, das ist jetzt nicht mehr so. Hier müssen neue Anreize geschaffen werden. Wir müssen hier handeln, weil sonst über kurz oder lang wieder ältere und verletzliche Menschen gefährdet werden.
Man hat derzeit eher den Eindruck, dass Ältere weniger schlimme Verläufe erleiden, oder stimmt das so nicht?
Ganz am Anfang der Pandemie waren die Ältesten besonders gefährdet, durch die konsequente Impfung wurde diese Entwicklung erfolgreich gestoppt. Damals hat die Impfung sehr gut zum Virus gepasst. Nach wie vor haben ältere Menschen mit Booster-Impfung einen wirksamen Schutz, aber eben nur befristet. Jetzt beobachten wir, dass die Inzidenzen bei den Älteren wieder steigen. Das macht mir Sorgen. Wenn der Schutz weiter bröckelt, laufen wir Gefahr, dass die Todeszahlen wieder steigen.

Die Todeszahlen sind in den vergangenen Wochen schon wieder gestiegen. Liegt das an dem nachlassenden Schutz der Älteren?
So ganz genau wissen wir das gar nicht. Denn wir haben ein Problem bei der Qualität unserer Zahlen. Der Anteil der Patientinnen und Patienten, die an Covid versterben, gegenüber dem Anteil derer, die mit Covid verstorben sind, ist nicht genau bekannt. Im Einzelfall lässt sich das auch nicht immer so einfach klären, das gebe ich zu. Es ist aber schon so, dass auch Omikron zu schweren und sehr schweren Verläufen führen kann. Solche Fälle haben wir auch hier in Freiburg.
Wie wichtig ist die Unterscheidung mit oder wegen Covid denn eigentlich?
Das ist aus Gründen des Pandemie-Managements sehr wichtig. Wir müssen die Krankheitslast des Erregers kennen, um die richtigen und angemessenen Maßnahmen zu ergreifen. Der Pflege- und Hygieneaufwand mag bei Patienten mit der Nebendiagnose Covid ähnlich groß sein wie bei der Hauptdiagnose Covid, aber die politisch Verantwortlichen können nicht auf diese Unterscheidung verzichten. So bleiben die Berechnungen im Vagen und führen mitunter zu Entscheidungen wie den jetzt aktuell getroffenen.
Die Inzidenzen sind so hoch wie nie. Glauben Sie, dass das zum Problem wird für die Kliniken?
Kurzfristig kann man das ausschließen, die Intensivstationen haben nicht mehr so viele Covid-Patienten und -Patientinnen, auch die Normalstationen kommen noch zurecht. Aber auch die Zahl der Long-Covid-Patienten wird mit steigenden Inzidenzen zwangsläufig wachsen.
Welche Langzeitfolgen sind denn bei der Omikron-Variante zu befürchten oder zu erwarten?
Unser Wissen zum Long-Covid-Syndrom wächst beständig. In welchem Umfang die Omikron-Variante zu Long-Covid-Problemen führen wird, können wir noch nicht wissen. Long Covid tritt ja zeitversetzt auf und Omikron ist relativ neu. Aber von den früheren Varianten wissen wir, dass auch leichte Verläufe dazu führen können. Daher sollte man dieses Problem auch bei Omikron nicht ausschließen.
Welche Organe werden angegriffen bei der Omikron-Variante und inwiefern weicht das ab von den bisherigen Varianten?
Die oberen Atemwege sind bei Omikron eher betroffen. Bisher lässt sich beobachten, dass die Menschen weniger stark erkranken, es zu weniger Hospitalisierungen kommt und weniger Todesfällen als bei Delta oder Alpha entstehen. Darüber hinaus hat das Coronavirus aber generell die Fähigkeit, das Immunsystem zu stören. Diese Fähigkeit besitzt auch Omikron, wenngleich in geringerer Ausprägung.
Die Omikron-Variante scheint am Abflauen – wie gefährlich ist die Untervariante BA2?
Wir wissen, dass sie sich leichter überträgt. Ob auch schwerere Krankheitsbilder durch BA2 entstehen, ist noch unklar. Aber es gibt doch Probleme mit BA2: Der einzige prophylaktische Antikörper gegen Omikron, der bei Risikopatienten eingesetzt werden konnte, scheint bei BA2 nicht mehr zu wirken. Für die betroffenen Risikopatienten ist das keine gute Nachricht.
Sind wir dagegen vollkommen machtlos?
Nein, aber wir müssen dafür das Virus weiter analysieren, die Virusgenome sequenzieren und wirklich wissen, was genau zirkuliert. Diese sogenannte Molekulare Surveillance ist aber nur noch bis zum 31. März finanziert, dann endet sie. Wenn das eintreten sollte, wäre das fahrlässig.
Wie schätzen Sie den weiteren Verlauf der Pandemie ein? Müssen wir mit einer neuen Welle im Herbst rechnen?
Keiner weiß genau, wie sich die Pandemie entwickeln wird. Aber wir sollten präventiv denken und uns auf neue Wellen einrichten. Es steht nicht zu erwarten, dass das Virus seine ganze Mutationsdynamik einfach einbüßt. Die Pandemie ist nicht vorüber, wir sind eher mittendrin. Wir sollten uns vorsehen, sonst werden wir wieder Opfer unseres Wunschdenkens.