Im Tübinger Rathaus ist wenig Publikumsverkehr. Schilder weisen darauf hin, dass nur hier sein darf, wer einen Termin hat. Eine Putzfrau saugt energisch den Flur im ersten Stock, ansonsten ist niemand zu sehen. Draußen ist Markt, die Tübinger halten zwar Abstand in der Schlange, aber echte Vorsicht wie zu Hochzeiten der Coronakrise ist auch hier nicht mehr zu erkennen.
Dabei mehren sich die Anzeichen, dass die Pandemie noch längst nicht vorüber ist, Experten warnen vor steigenden Zahlen im Herbst. Weltweit ist ein Rennen um einen Impfstoff gestartet. Die Tübinger Firma Curevac ist eine davon. Die Impfstudie läuft seit Juni an der Tübinger Uniklinik. Die Impfung der Probanden in Phase 1 ist fast abgeschlossen. Wenige Probanden fehlen noch.
Oberbürgermeister Boris Palmer hat sich als Proband beworben. Den SÜDKURIER erwartet er in seinem Besprechungszimmer vor seinem Büro. Der Grünenpolitiker trägt Jeans und ein grünes Poloshirt, dazu braune Lederschuhe. Aber keine Maske. Dafür bittet er die Reporterin, am anderen Ende des Tisches Platz zu nehmen.
Herr Palmer, vielen Dank, dass Sie es so kurzfristig einrichten konnten. Die Impfstudie läuft schon seit zwei Monaten. Warum haben Sie sich erst jetzt dazu entschieden, an der Impfstudie teilzunehmen?
Ich habe mich vor etwa vier Wochen bei Professor Kremsner, den ich schon länger kenne, gemeldet und angeboten mitzumachen und besprochen, was das politisch bedeutet, zum Beispiel, dass Sie mir jetzt Fragen stellen.
Professor Kremsner fand es gut, hat aber gesagt, er würde mich ganz normal einreihen, also ohne Sonderbehandlung. Dann hat sich gezeigt, dass in meiner Altersgruppe tatsächlich noch Probanden fehlten, weil die, die sich zuerst gemeldet hätten, teilweise gesundheitlich nicht die Voraussetzungen erfüllt haben. Da bin ich dann nachgerückt.
Das heißt, Sie sind kerngesund?
In jedem Fall habe ich nichts, was einer Impfung entgegensteht. Ich habe bestenfalls Büroleiden wie Rückenschmerzen.
Ich nehme ebenfalls an der Studie teil. Mich hat die journalistische Neugierde, aber auch der Wille, einen Beitrag zu leisten, um den Menschen bald wieder ein normales Leben zu führen, dazu gebracht. Wie war das bei Ihnen? Sehen Sie sich als Oberbürgermeister einer medizinischen Universitätsstadt mehr oder weniger gezwungen, Ihren Beitrag zu leisten?
Mir geht es um Tübingen und um Aufklärung. Ich finde es großartig, dass wir mit Curevac einen weltweiten Pionier in der Impfstoffentwicklung in der Stadt haben. Das unterstütze ich seit 20 Jahren und bin mit dem Gründer auch schon seit dem Studium bekannt. Und dass wir eine Uni haben, die solche Tests durchführen kann – da kommt ja alles zusammen. Ich finde, es lohnt sich, das zu unterstützen.
Zum anderen hat mich entsetzt, welche Aversion und Aggression sich gegen die Impfstoffentwicklung ausbreitet, jedenfalls im Internet, und was da für haarsträubende, absurde Theorien im Umlauf sind, zum Beispiel, dass diese neue Impfstoffklasse besonders gefährlich sei, weil sie den Menschen umprogrammiere und in seine Gene eingreife. Das ist einfach kompletter Unfug. Die Leute haben dann immer geschrieben, ich solle mich doch zuerst impfen lassen. Da habe ich gesagt: Ja genau, das mache ich jetzt auch. Um es ihnen zu zeigen, dass an diesen Gerüchten nichts dran ist.
Wie geht es Ihnen nach der Impfung? Ich habe nichts gespürt, abgesehen von etwas Abgeschlagenheit. Wie war das bei Ihnen?
Ich bin ehrlich gesagt beunruhigt, denn ich merke überhaupt nichts und habe jetzt ein bisschen die Befürchtung, dass ich den Placebo erwischt habe, aber mit 83 Prozent Wahrscheinlichkeit ist es der Wirkstoff. Das tolle an dem Wirkstoff ist ja, dass es so gut wie keine Nebenwirkungen gibt. Sollte ich den Wirkstoff haben, dann merke ich schlichtweg nichts.
Sie sind wie ich in der doppelt verblindeten Probandengruppe, Sie könnten also zu den 17 Prozent gehören, die nur ein Placebo bekommen haben. Was sagt Ihr Bauchgefühl?
Ich habe natürlich, weil ich gar nichts gemerkt habe, gedacht, es war der Placebo. Aber die Forscher sagen, dass auch viele, die den Wirkstoff bekommen haben, so reagieren – jedenfalls mehr als diese 17 Prozent. Jetzt bleibt die Hoffnung.
Haben Sie vor, die ganze Studie mitzumachen, also die komplette erste Phase?
Ja klar, mit einer Einschränkung: Falls der Impfstoff zugelassen wird und auf den Markt kommt, dann will ich nicht mehr mit dem Risiko leben, dass ich den Placebo habe, dann will ich geimpft werden oder die Klarheit darüber, was mir in der Studie verabreicht wurde.
Wie groß schätzen Sie das Risiko ein, dass bei der Studie etwas schief gehen könnte?
Der große Vorteil gegenüber klassischen Impfungen, insbesondere Aktivimpfungen mit den echten Erregern, wie man das früher gemacht hat, bei Pocken zum Beispiel, ist ja, dass hier reine Information gespritzt wird, kein Virus. Deshalb ist diese Wirkstofftechnik viel sicherer als alles, was wir früher benutzt haben. Deswegen hatte ich überhaupt keine Bedenken. Und gegenüber einer Schwellung am Arm, die ich vermutet habe, bin ich ziemlich entspannt. Deshalb hatte ich null Sorgen.
Ich wurde häufig gefragt, ob ich mich dann auch dem Virus aussetze. Das ist in der Phase-1-Studie, in der wir beide teilnehmen, ja gar nicht vorgesehen. Aber würden Sie sich absichtlich infizieren lassen, nachdem Sie geimpft wurden, um die Wirksamkeit des Impfstoffs zu testen?
Nein. Dafür bin ich eindeutig zu alt. Das ist eindeutig, dass die Phase-3-Studie an 20-Jährigen gemacht werden muss. Weil es weltweit so gut wie keine Berichte gibt, dass denen was passiert, während in meinem Alter tatsächlich auch in Tübingen ein kerngesunder Mensch an Covid-19 gestorben ist. Deswegen wäre das fahrlässig.
Was machen Sie eigentlich mit der Probandenentschädigung?
Ich habe nur im Internet gelesen, dass ich eine bekäme. Das ist mir gar nicht bewusst. Aber wenn ich eine bekomme, dann suche ich mir einen guten Zweck, wie ich das mit vielen Einkünften dieser Art mache.
Wohin würden Sie das Geld denn geben?
Da ich in den Unterlagen nicht gelesen habe, dass ich etwas bekomme, habe ich mir noch nicht so viele Gedanken gemacht.
Das steht in der circa 20-seitigen Probandeninformation…
Dann habe ich das offensichtlich nicht gut gelesen. Aber ich werde es spenden, das ist klar.
Später schickt der Oberbürgermeister noch eine Mail. Inzwischen habe er sich Gedanken dazu gemacht, wohin er das Geld geben wolle: „Ich werde dem Tübinger Hospiz im Bau spenden. Covid-19 hat uns gezeigt, dass die Menschenwürde verletzt ist, wenn Menschen einsam sterben müssen“, schreibt er dem SÜDKURIER.
Machen Sie sich als Tübinger Bürgermeister nicht angreifbar oder beeinflussbar, wenn Sie eine Tübinger Firma durch Ihre Teilnahme unterstützen? Sie hätten ja auch bei Biontech mitmachen können…
Biologisch-medizinisch bin ich da sicher nicht beeinflussbar, weil ich nicht glaube, dass die Antikörpermessungen ein anderes Ergebnis bringen, nur weil ich Bürgermeister bin – und darum geht es ja, wenn man Proband ist.
Und das andere ist Absicht und auch völlig legitim und in Ordnung, dass man als Oberbürgermeister für die Menschen und die Firmen in der Stadt versucht, das Beste zu erreichen und das habe ich getan, indem ich mich beim Bund dafür verwendet habe, die Firma finanziell zu unterstützen, damit sie weiterarbeiten kann. Und das tue ich auch jetzt, indem ich sage, das ist die Firma, die diesen Wirkstoff entwickelt hat und weltweit die erste war und die, so hoffe ich, dann auch wirtschaftlichen Erfolg damit hat. Im Schwäbischen ist wirtschaftlicher Erfolg nicht peinlich.
Ihnen wird gerne unterstellt, dass Sie alles tun, um irgendwie in die Schlagzeilen zu kommen. Was würden Sie Ihren Kritikern in diesem Fall antworten?
Das finde ich so langweilig, dass mir dazu keine gescheite Antwort einfällt. Wer in die Politik geht, muss auch mit Medien arbeiten. Und wer nicht mit Medien arbeiten will, sollte nicht Oberbürgermeister werden. Ich arbeite nach dem Prinzip: Tue Gutes und rede darüber.
Was glauben Sie denn, wann der Impfstoff auf den Markt kommen wird?
Ich kann nur wiedergeben, was die Forscher selbst sagen. Mit den nötigen deutschen Sicherheitsstandards halte ich eine Zulassung erst in 2021 möglich. Ich würde auch den russischen Impfstoff jetzt noch nicht nehmen.
Fotos will der Tübinger Oberbürgermeister lieber nicht in seinem Büro machen, da sei es grade nicht so aufgeräumt, sagt er entschuldigend. Eine medizinische Kulisse kann er auf die Schnelle nicht organisieren. Dann deutet er auf ein ganz in Rot getauchtes Bild mit technischen Zeichnungen darauf – das Werk eines lokalen Künstlers, wie er erklärt. Davon habe noch keiner ein Bild gemacht, sagt er und lächelt in die Kamera. Ganz der Medienprofi.