Professor Peter Kremsner wirkt entspannt. Dabei hat der Studienleiter der Impfstudie zu einem neuen Impfstoff gegen Covid-19 alle Hände voll zu tun. An Urlaub kann der 59-Jährige vorerst jedenfalls nicht denken, im Gegenteil. 80 bis 100 Stunden arbeitet der Direktor des Tropeninstituts an der Universitätsklinik Tübingen derzeit im Schnitt, sagt er. Die hohe Arbeitsbelastung ist ihm nicht anzumerken.

Die Impfstudie, die im Juni begonnen hat, ist inzwischen in vollem Gange. Vier Wochen sind seit meiner ersten Impfung vergangen. Zwei Mal war ich im Anschluss zur Kontrolle im Tropeninstitut. Meine Blutwerte sind alle in Ordnung.
Ob ich Antikörper gebildet habe, dürfen aber weder meine Ärzte noch ich selbst erfahren: Denn ich gehöre zur sogenannten doppelt verblindeten Gruppe, in der ein Teil der Probanden nur ein Placebo erhält. 17 Prozent der Teilnehmer, um genau zu sein. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich den Impfstoff bekommen habe, ist also hoch. Aber Gewissheit werde ich erst zum Ende der Studie haben.
Gründliche Untersuchung
Heute werde ich zum zweiten Mal geimpft. Doch zuvor untersucht mich Ärztin Eva-Maria Neurohr noch einmal gründlich. Sie prüft Temperatur, Puls, Blutdruck, hört Herz und Lunge ab, tastet die inneren Organe ab und stellt sicher, dass ich keine geschwollenen Lymphknoten habe. Dann nimmt sie mir erneut Blut ab, um ein Blutbild zu erstellen. So kann sie meine Blutwerte kontrollieren und im Blick behalten. Auch einen Schwangerschaftstest muss ich machen – denn Schwangere dürfen nicht teilnehmen. Erst, als das Ergebnis vorliegt, bekomme ich grünes Licht für die zweite Impfung.
Der Impfstoff wird frisch zubereitet, in einem kleinen verschlossenen Raum neben dem Behandlungszimmer. Weil ich zu der Gruppe gehöre, in der auch Placebos gehören, darf ich den Vorgang nicht sehen und auch nicht filmen. Professor Kremsner beschreibt, was hinter den verschlossenen Türen vor sich geht. Der Impfstoff, so ich ihn bekomme, wird direkt aus dem Tiefkühler geholt und für die Spritze vorbereitet. Nur das sogenannte Formulierungsteam darf wissen, wem welcher Stoff verabreicht wurde. Ärztin Neurohr nimmt die vorbereitete Spritze über eine Durchreiche in Empfang, auch sie weiß nicht, was ich bekomme.
Professor Kremsner aber übernimmt die Impfung selbst. Die Dosis hat sich für mich nicht verändert, ich bekomme nach wie vor zwei Mikrogramm. Der Stich in den rechten Oberarm ist unangenehm, aber diesmal bin ich darauf vorbereitet. Ich muss mich im Anschluss in die vierstündige Beobachtungszeit begeben.
Stündlich wird mein Blutdruck gemessen. Ich bin „tiefenentspannt“, sagt die Mitarbeiterin des Instituts und meint meinen niedrigen Ruhepuls.

Beliebte Studie
In der Bibliothek, die als Beobachtungszimmer für die Probanden dient, sitzen vier Studenten, eine Mitarbeiterin der Uniklinik und ein älterer Mann, der offenbar zur Gruppe der Menschen über 40 Jahren gehört, daneben eine Studienbegleiterin und zwei Medizinstudentinnen, die das Protokoll der Beobachtungsphase führen. Es herrscht Mundschutzpflicht, obwohl die Probanden negativ getestet sein müssen, um an der Studie teilnehmen zu dürfen. Sicherheit geht vor.
Inzwischen ist das Probandentum in dieser Studie hoch im Kurs. Fast 5000 Bewerber gebe es für die Teilnahme an der Studie. Doch 4000 davon gehören zur jüngeren Gruppe von 18 bis 40 Jahren, für die Kremsner bereits genügend Teilnehmer hat. In der älteren Gruppe von 40 bis 60 Jahren gestalte sich die Auswahl schon schwieriger, erklärt der Studienleiter. Denn nur kerngesunde Menschen dürfen teilnehmen.
Die schwierigste Gruppe steht aber noch aus: Schon „bald“ soll die Zielgruppe des Virus getestet werden, also Menschen über 60 Jahre, bei denen die Krankheit Covid-19 eher einen schwierigen Verlauf nimmt als bei jüngeren Patienten. Die Kriterien für die Studienteilnahme seien derzeit in der Diskussion, sagt Kremsner. Der Professor hält es aber für unwahrscheinlich, dass genügend Probanden gefunden werden können, wenn nur vollkommen gesunde Menschen zugelassen werden, die nie eine Vorerkrankung hatten.
Parallel treibt der Studienleiter die Erhöhung der Dosis voran. Inzwischen sei die Gruppe der Probanden, die mit acht Mikrogramm geimpft wurden, fast abgeschlossen. Bislang hat es keine Zwischenfälle gegeben: „Es läuft alles sehr gut, mehr kann ich nicht sagen“, hält sich Kremsner bedeckt. Aber so viel verrät er: Die Dosis soll noch weiter gesteigert werden. Entscheiden muss das aber die unabhängige Ethikkommission anhand der bisherigen Studiendaten.
Heiße Phase steht noch bevor
Kremsner will so bald wie möglich die Wirksamkeit des Impfstoffs am Menschen testen. Diese entscheidende und dritte Phase muss in einem Gebiet stattfanden, das stark von dem Virus betroffen ist, weil viele Probanden gebraucht werden. Vieles deutet derzeit auf Brasilien hin. Gesetzt sei das aber noch nicht, betont Kremsner. Ohnehin würde diese heiße dritte Phase in verschiedenen Ländern durchgeführt. Die derzeitigen Brandherde sieht der Professor in Nord- und Südamerika sowie Afrika.
Eine Alternative wäre eine sogenannte Challenge-Studie, bei dem Menschen gezielt mit dem Virus infiziert werden, um zu prüfen, ob der Impfstoff wirkt. Der Vorteil: Für diese Studie bräuchte es weniger Probanden. Kremsner sagte in einem Interview Anfang Juli, es könnten „demnächst“ Challenge-Studien zu Covid-19 anlaufen: Etwa mit gesunden Erwachsenen unter 25 Jahren.
In Deutschland sind solche Tests aber eher unwahrscheinlich, schätzt Joerg Hasford, Vorsitzender des Arbeitskreises Medizinischer Ethik-Kommissionen: Zumindest, solange die Wirksamkeit des Impfstoffs nicht nachgewiesen ist. Das soll in der zweiten Phase in vitro geschehen, also durch die Entnahme von Zellen aus dem Körper geimpfter Probanden und der Zusetzung von Viren im Reagenzglas. Bis dahin scheint es noch ein langer Weg.
Ich darf den Beobachtungsraum verlassen, mein Puls ist ruhig geblieben, ich habe außer einem leichten Ziehen im Oberarm keine Schmerzen, fühle mich ganz normal. Noch einmal untersucht mich meine Ärztin, geht einen Fragebogen mit mir durch. Zum Abschluss bekomme ich ein Tagebuch mit, in dem ich täglich meine Körpertemperatur und mögliche Symptome eintragen soll.
Kommt die zweite Welle?
Ob er hier in der Region eine zweite Welle befürchtet? Kremsner schüttelt den Kopf: „Es gibt keine zweite Welle, sondern eine einzige Lawine, die stetig anschwillt“, sagt er. „Eine Pandemie kann nur weltweit betrachtet werden. Derzeit steigen auch in Europa die Fallzahlen wieder an.
In Deutschland klettern sie wieder besonders in Nordrhein-Westfalen und auch in Baden-Württemberg. Grund zur Entspannung gibt es nicht. Und so lange wird Kremsner wohl weiter Überstunden machen. Bis ein wirksamer Impfstoff auf den Markt kommt.