Herr Stenger, was die beruflichen Erfolgsaussichten betrifft – wären Sie heute lieber Kriminaler oder Krimineller?
Eindeutig Kriminaler, weil ich grundsätzlich bei den Guten sein will. Meine Leidenschaft als Kriminalist ist auch der Grund, warum ich als ehemaliger Mannheimer Polizeipräsident den Weg zurück nach Stuttgart genommen habe: Weil es faszinierend ist, wie wir beim LKA in komplexen Fallkonstellationen ganzheitlich vorgehen können, wie Kriminalistinnen und Kriminalisten sich gemeinsam mit Wissenschaftlern um diese Dinge kümmern.
Zu diesem multidisziplinären Arbeiten habe ich eine hohe Affinität. Mit modernen wissenschaftlichen Methoden schaffen wir es heute in vielen Fällen, Täter zur Verantwortung zu ziehen, die früher aussichtslos erschienen.
Was ist die Rolle des LKA?
Wir ziehen die Spezialisten in einem Team zusammen, die wir brauchen. Das ist auch unsere zentrale Aufgabe als LKA. Wir haben fast 1400 Beschäftigte, davon sind fast 800 Polizeivollzugsbeamte. Die anderen Kolleginnen und Kollegen kommen hauptsächlich aus der Wissenschaft, Forensik und IT. Damit liefern wir den Dienststellen ein kompaktes Unterstützungs- und Servicepaket mit viel individueller Expertise und mit hochmodernem Equipment. Und dazu kommt noch unser originäres Aufgabenfeld in schweren und schwersten Fällen.
Wenn Sie im Fernsehen einen Krimi sehen, haben Sie einen einsamen Ermittler, vielleicht noch mit Partner, der eine Fülle von Problemen hat und innerhalb von 80 Minuten einen Fall klärt. Das hat mit der Realität nichts zu tun. In komplexen Fällen arbeiten wir immer in multidisziplinären großen Teams. Die Sonderkommission bei einem Tötungsdelikt umfasst 20 bis 50 Leute plus X.
Sind Sie technisch auf Augenhöhe mit den Tätern?
Das Bild der rückständigen Polizei und der High-Tech-Täter scheint mir oft als Klischee. Das hat in manchen Facetten vielleicht eine reale Entsprechung, wird aber oft überzeichnet. Ich war jetzt zwei Jahre weg vom LKA. Dinge, über die wir damals konzeptionell gesprochen haben, sind heute Realität. Wir haben heute die Möglichkeit, Tatorte dreidimensional auf dem PC zu realisieren oder mit VR-Brille virtuell durch den Tatort zu gehen. Die Tatortskizze hat ausgedient.
Wir haben sicher auch einzelne technische Defizite. Aber da hat sich immens viel getan. Wir wurden in den letzten zehn Jahren gezielt dafür ausgestattet, unsere vielfältigen Aufgaben auf modernem Stand der Technik erfüllen zu können. Da ist man aber nie am Ende, das geht durch die technologische Entwicklung immer weiter.
Wie sehr verändert digitale Technik die Ermittlungen?
So, wie 1987 die DNA-Technik die polizeilichen Möglichkeiten revolutioniert hat, so tun es heute zunehmend digitale Spuren. Wir nutzen heute bei der Bearbeitung von Massendaten auch Künstliche Intelligenz und Algorithmen. In einer digitalen Welt hinterlassen wir alle ständig digitale Spuren, die immer einen Informationsgehalt mit kriminalistische Mehrwert haben. Eine Facette sind Bewegungsbilder, die über die Smartphones entstehen, die sich einloggen, wo wir gehen und stehen.
Und viele Menschen haben zuhause schon Smart-Home-Elemente. Wenn wir wissen, wann der Rollladen geöffnet wurde, wann die Kaffeemaschine oder das Licht angeschaltet wurde, sind das bei der retrospektiven Bewertung wichtige Details. Das gleiche gilt für Fahrzeuge, die heute fahrende Computer sind. Wir können Fahrtstrecken rekonstruieren, Geschwindigkeiten nachvollziehen, insbesondere zum Zeitpunkt eines Unfalls. Wir bekommen viele Detailinformationen, die uns kriminalistisch weiterbringen und uns früher verwehrt waren. Das ist sehr spannend.
Ist Ihnen der Datenschutz da im Weg?
Manchmal würden wir vielleicht gerne mehr machen, aber der Datenschutz steht völlig außer Frage. Ich wundere mich aber, dass Menschen außerhalb von staatlichen Stellen sehr leichtfertig mit ihren höchstpersönlichen Daten umgehen und gegenüber dem Staat per se ein höheres Misstrauen herrscht. Wenn man überlegt, wie viel Videoüberwachung anstandslos in einer Shopping Mall stattfindet – aber will man an einem Kriminalitätsschwerpunk eine Videoüberwachung einrichten, führt das immer auch zu kontroversen Debatten. Das finde ich gut, Debatte muss sein und ein Maßstab und Standard im Sinne des Datenschutzes ist wichtig.
Eine KI-basierte Videoüberwachung kann heute nicht nur Personen und Objekte differenzieren, sondern grobmotorisch verdächtige Verhaltensmuster erkennen– also schlagen, fallen, rennen, treten. Da muss am Ende keiner mehr dasitzen und den Monitor beobachten, sondern man hat ein System, das verdächtiges Verhalten identifiziert. Da können wir enorme Ressourcen sparen. Und die Eingriffe in das allgemeine Persönlichkeitsrecht sind in gewisser Weise minimalinvasiv.
Welche Rolle spielt Cyberkriminalität?
Wenn es Krawalle in Stuttgart oder auf den Neckarwiesen in Heidelberg gibt, ist die Resonanz zu Recht in den Medien groß. Aber Berichte über den Cyberangriff auf die US-IT-Firma Kaseya werden weniger beachtet und diskutiert. Das Bedrohungs- und Schadenspotenzial, das Cyberkriminelle entfachen können, ist eine große Herausforderung der Zukunft.
Wir sprechen da nicht über Science Fiction, sondern über Realität. Wenn Forschungsberichte, wie beispielsweise vom BMWi zum Ergebnis kommen, dass zwei Drittel von Unternehmen Opfer einer Cyberattacke geworden sind, so stimmt das nur bedingt – da fehlen genau genommen die Angriffe, die in der Firewall hängengeblieben sind. Wir müssen uns bewusst machen, dass wir uns immer dann, wenn wir beispielweise den Computer anschalten oder mit dem Handy ans Netz gehen, auch angreifbar sind für solche kriminellen Attacken.
Wie reell sind die Bedrohungen heute schon?
Ich will keine Ängste schüren, aber das Bewusstsein dafür ist in der Breite noch nicht überall angekommen. Mehr-Faktoren-Authentifizierung ist für viele ein Fremdwort, Backups und Recovery werden nicht gemacht, und noch immer gibt es viele Passwörter, die aus 12345678 bestehen.
Das Cyber-Security-Awareness-Level ist teilweise in der Industrie, bei den Behörden und den Bürger noch deutlich steigerungsfähig. Wenn irgendwo ein Terrorangriff stattfindet, sieht der Bürger gleich, was passiert ist. Da gibt es Trümmer, Rauch, Verletzte. Aber wenn wir davor warnen, dass ein Cyberangriff stattfindet auf kritische Infrastruktur, Strom und Wasser nicht mehr funktionieren, unsere Infrastruktur zusammenbricht, sodass wir nicht einmal mehr geordnet auf die Toilette gehen können, dann ist das Interesse im Vorfeld nicht besonders groß.
Aber nehmen Sie Bitterfeld-Anhalt: Da wurde gerade ein ganzer Landkreis durch einen Cyberangriff völlig lahmgelegt, die haben den Cybernotstand ausgerufen. Das zeigt, wie real das ist. Die Attacken werden jedes Jahr mehr und immer professioneller. Die Täter sind raffiniert, geschickt und optimieren ihre Vorgehensweise ständig.
Wie schwierig ist die Tätersuche bei Cyberattacken?
Wir wissen schon oft auch, wer die Täter sind und wo diese sitzen, es gibt natürlich da immer auch Ermittlungserfolge. Aber es gibt auch mutmaßlich staatsgelenkte Aktivitäten, da ist der Zugriff schwieriger. Bei umfangreichen Cyberermittlungen klicken am Ende nicht unbedingt die Handschellen, wie wir das aus der analogen Welt kennen und schätzen. Die Täter können per Mausklick von jedem Ort der Welt aus agieren und müssen physisch nicht am Tatort sein.
Aber auch die Anonymität des Netzes und der digitalen Welt hat Grenzen. Wir sind nicht machtlos. Wir müssen viele Felder bespielen, und das tun wir. Cybersecurity, Notfallplanung, Beratung, gute Prävention. Das ist mindestens genauso wichtig wie der Ermittlungserfolg, einen Täter zu erwischen.
Der besondere Fall des LKA-Chefs: Wie die Polizei dem Mörder der Freiburger Studentin Maria L. auf die Spur kam
LKA-Chef Andreas Stenger berichtet: „Ich habe natürlich schon eine Fülle von Fällen begleitet. Aber herausragend ist schon zum Beispiel der Mordfall an der Freiburger Medizinstudentin. Damals war ich Leiter des Kriminaltechnischen Instituts beim LKA, wir waren stark in den Fall eingebunden. Damals wurden unter anderem auch die Brombeerhecken an der Dreisam in einem gewissen relevanten Segment abtragen. Es gab Spuren, die daraufhin gedeutet haben, dass sich das Tatgeschehen dort in irgendeiner Weise abgespielt und der Täter vielleicht verletzt haben könnte. Um Blutspuren des Täters zu finden, war die Idee, die ganzen Säcke mit den Zweigen mit Lumineszenen zu durchsprühen, das ist so ein Fluoreszenz, das mit dem Hämoglobin des Blutes reagiert und bei Abdunklung fluoresziert. Das hat aber nicht funktioniert. Dann haben wir entschieden, dass wir uns jeden einzelnen dieser Zweige und jedes einzelne Blatt unter dem Mikroskop anschauen. In dem Arbeitsbereich arbeiten 58 Leute, die meisten sind medizinisch-technische, biologisch-technische und chemisch-technische Assistenten. Die machen die Laborarbeit. Und wenn Sie denen sagen, das machen wir jetzt die nächsten Wochen – sieben Wochen hat es gedauert – dann steigen Ihre Sympathiewerte als Chef nicht unbedingt. Aber wir haben gesagt, wir ziehen das jetzt durch.
Und dann kommt irgendwann der Spezialist für Haaruntersuchungen zu mir und sagt, wir haben ein Haar gefunden, das ist 18,5 Zentimeter lang, in der Grundfarbe schwarz und blondiert. Ich dachte, das ist von einer Frau, denn welcher Mann hat schon schulterlange blondierte Haare? Aber da war noch Wurzelmaterial dran, mit dem man eine DNA-Analyse machen konnte, und die DNA war identisch mit den Täterspuren am Opfer. Dann war klar, dass wir nicht irgendein Haar gefunden haben, sondern eines, das uns sagt, wie unser Täter aussehen muss. Dann wurde das gesamte Videomaterial vom ÖPNV im relevanten Bereich sondiert, die Bänder angeschaut und die Menschen, die mit Bus und Straßenbahn gefahren sind. Da haben wir den Mann gesehen mit diesem beidseitigem Undercut und dem blond gefärbtem Zopf. Den Ausschnitt haben wir vergrößert und an alle Dienststellen geschickt – und dann meldet sich der Posten und sagt: Den kenne ich, der wohnt dort in Tatortnähe. Und dann fährt man hin, holt ihn, macht einen Mundhöhlenabstrich – und das ist unser Täter. Das ist Polizeiarbeit, das fasziniert mich an meinem Beruf. Nicht das Haar in der Suppe, sondern das Haar in der Hecke führt dazu, dass so ein schreckliches Verbrechen aufgeklärt werden konnte.“