In Zeiten der Corona-Krise wären ihre Kinder gar nicht aufgefallen. Doch damals war Karen Kerns Angst groß, dass eines Morgens die Polizei vor der Tür stehen könnte, um ihre Jungen abzuholen. Zwei ihrer Söhne sind gerade 11 und 14 Jahre alt, als sie sich entscheiden, nicht mehr in die Schule zu gehen.

Die beiden jüngsten Söhne der fünfköpfigen Familie Kern: Malchus, 14, (rechts) hat sich 2001 mit elf Jahren entschieden, nicht mehr zur ...
Die beiden jüngsten Söhne der fünfköpfigen Familie Kern: Malchus, 14, (rechts) hat sich 2001 mit elf Jahren entschieden, nicht mehr zur Schule zu gehen. Eineinhalb Jahre später traf sein jüngerer Bruder Josias mit zehn Jahren dieselbe Entscheidung. | Bild: Familie Kern

Tatsächlich kann die Polizei dafür sorgen, dass Kinder den Unterricht besuchen. Wer sie nicht zur Schule schickt, macht sich strafbar. Es drohen Bußgelder bis zum Entzug des Sorgerechts. Wie viele Kinder nie oder nur sporadisch die Schule besuchen, darüber gibt es nur Schätzungen: Die Kultusministerkonferenz geht von 500 bis 1000 Kindern in Deutschland aus, die „Freilerner“-Szene von dreimal so viel.

Wenn Karen Kern über die Mobbing-Erfahrungen ihres ältesten Sohnes spricht, die mehr als 20 Jahre zurückliegen, die Schulwechsel, die nichts brachten und alles nur schlimmer machten, kippt ihr kurz die Stimme weg. „Fünf Jahre hat er in der Schule gelitten.“ Doch es waren auch Kollektivstrafen für die Klasse und Situationen, in denen sie sich ungerecht behandelt fühlten, die diese Entscheidung reifen ließen.

Die 56-jährige Lehrerin sitzt in einem Sessel vor einem Regal voller Schulbücher in ihrem Haus in Markdorf. Ihre fünf Kinder sind längst aus dem Haus. „Wir hatten unsere Kinder immer mehr in unsere Entscheidungsprozesse mit einbezogen“, erinnert sie sich. „Eine Missachtung ihrer Wünsche hätte einen großen Vertrauensverlust bedeutet.“

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Mit der Schulpflicht steht Deutschland in Europa ziemlich allein da. Außer in Schweden gibt es in den meisten Ländern nur eine Bildungspflicht. So schickt das Bildungsministerium in Frankreich einmal im Jahr Inspektoren zu den 30 000 Kindern, die keine Schule besuchen, sondern zu Hause lernen. Damit will man dafür sorgen, dass sich alle Jugendlichen bis zum Alter von 16 Jahren die notwendigen Grundkenntnisse aneignen. Ohne Fortschritte haben die Behörden jedoch das Recht, die Kinder zur Schule zu schicken.

In Kanada, Australien, Neuseeland und in den USA gibt es eine Unterrichtspflicht, die aber auch die Eltern übernehmen können. Dies hat laut dem Erziehungswissenschaftler Peter Struck von der Universität Hamburg teils religiöse, teils regionale Ursachen, weil die nächste Schule in ländlichen Gebieten oft viel zu weit entfernt liegt.

Karen Kern arbeitete damals an einer privaten Grundschule mit alternativem Konzept in Konstanz. Auch ihr Mann Matthias ist Lehrer.

Die Kerns sind Vielleser: So auch die beiden Töchter, die Abitur gemacht haben. Die Jüngere legte eine Schulfremdenprüfung ab.
Die Kerns sind Vielleser: So auch die beiden Töchter, die Abitur gemacht haben. Die Jüngere legte eine Schulfremdenprüfung ab. | Bild: Familie Kern

Ihre älteste Tochter hatte bis zum Abitur die Schule besucht, die Jüngere kehrte von einem Auslandsschuljahr zurück, als die beiden Söhne sich entschieden, nicht mehr zur Schule zu gehen. Sie beschloss, ihr Abitur zu Hause vorzubereiten und legte die Hochschulreife zwei Jahre später als Schulfremdenprüfung ab. Für die Behörden war das kein Thema, weil das Mädchen bereits 18 Jahre alt war.

Die Kerns sind Vielleser. Sie gingen mit ihren Kindern regelmäßig in die Stadtbücherei. Vieles erarbeiteten sich die Kinder durch die Recherche im Internet, abends diskutierten sie mit ihren Eltern unterschiedlichste Themen. Anfangs war es schwer, die Kinder frei lernen zu lassen. „Vieles lernten sie projektartig, da bei jedem der Kinder immer mindestens eines, meistens aber mehrere Themen wichtig waren“, erinnert sich Karen Kern. Während die Kinder in Freilerner-Familien selbst entscheiden, was und wann sie lernen und ihrer eigenen Neugier folgen, unterrichten beim Homescooling die Eltern ihre Kinder zu Hause nach selbst erstellten Stunden- und Themenplänen.

In Großbritannien gab es Drechselkurse: Ältere Herren kamen mit Maschinen ins dortige Johanniterheim und leiteten Josias und andere ...
In Großbritannien gab es Drechselkurse: Ältere Herren kamen mit Maschinen ins dortige Johanniterheim und leiteten Josias und andere Jugendliche an. | Bild: Familie Kern

Zweimal musste das Ehepaar Bußgelder bezahlen, einmal mehr als 400, später über 500 Euro. Während die älteren Söhne ihre Mutter eher beruhigten in ihrer Angst, dass eines Tages die Polizei vor der Tür stehen könnte, reagierte der Jüngste hier sensibler. Dies war mit ein Grund dafür, dass die Kerns sich 2006 entschlossen, nach Großbritannien zu ziehen. „Wir waren auch der Auseinandersetzungen müde und wollten gerne eigene Erfahrungen mit dem Leben im Ausland machen“, erinnert sich Karen Kern. „In Großbritannien ist Home Education, wie Bildung ohne Schule dort genannt wird, problemlos möglich.“

Nie mehr in die Schule

Obwohl ihre Kinder längst erwachsen sind, bestimmt die Schule noch immer das Leben der Kerns. Sie beraten Familien der Freilerner-Szene in ganz Deutschland. Ihr Verein, die Freilerner-Solidargemeinschaft, der sich über Spenden finanziert, übernimmt Bußgelder und Anwaltskosten. „Oftmals haben die Kinder schlechte Erfahrungen mit Schülern oder Lehrern gemacht“, sagt Karen Kern, „manchmal können sie es selbst gar nicht ausdrücken, woran es genau liegt.“ Sie wissen nur eines: In die Schule wollen sie keinen Fuß mehr setzen.

Viele fühlten sich auch durch das Schulsystem eingeengt. Dass es meistens nicht die Eltern seien, die ihre Kinder zu einer Bildung zu Hause drängen, sondern die Kinder selbst, haben die Kerns auch an Kultusministerin Eisenmann geschrieben. Ihr Ministerium hatte 2019 auf eine Kleine Anfrage des SPD-Abgeordneten Gerhard Kleinböck zum Hausunterricht Stellung genommen.

Stellungnahmen zum Hausunterricht

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat bereits 2006 entschieden, dass deutsche Eltern kein Recht auf Heimunterricht haben. Die Straßburger Richter schlossen sich der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts an: Eltern könnten ihre Kinder ebenso gut nach der Schule erziehen, auch im Hinblick auf ihre religiösen Überzeugungen. Die „Freilerner“, bekanntester Verband der deutschen Homeschooling-Bewegung, sehen „die Schulpflicht als Relikt aus den vergangenen zwei Jahrhunderten“ an. Manche sehen in der Schule ein „gewalttätiges System“. So weit geht Karen Kern nicht. Doch es müsse in einer Demokratie möglich sein, dass Kinder auch andere Bildungswege wählen, sagt sie.

Gibt es ein ideales Schulsystem, Frau Kern? Video: Birgit Hofmann

Warum hält Deutschland trotzdem an der Schulpflicht fest? Eine Ursache dafür sei die Demokratisierung nach dem Kaiserreich in Deutschland, sagt Ilka Hoffmann, Mitglied des Geschäftsführenden Vorstands der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. „Die Kinder sollten nicht auf dem Feld arbeiten oder im Bergbau, sondern zu mündigen Bürgern erzogen werden und Bildung bekommen – und zwar ausnahmslos.“ Daran halte man bis heute fest. Hinzu komme, dass bildungsorientierte Eltern eine Bildungspflicht ihrer Kinder einhalten könnten, sozial Benachteiligte dagegen eher nicht. Außerdem sieht sie die Gefahr, dass Eltern, die Sexualkundeunterricht ablehnen, aber auch islamistische und rechtsextreme Gruppen Bildung für ihre Zwecke missbrauchen könnten, wenn die Schulpflicht abgeschafft würde.

Was ist aus den Kindern der Kerns geworden?

Bis auf den Jüngsten, der 27 Jahre alt ist, sind alle verheiratet. Die Töchter haben in Dänemark Kultur- und Sprachmittler für Englisch und Dänisch studiert. Die Söhne schlugen nach ihrem Hauptschulabschluss verschiedene Richtungen ein: Einer ist Schulbusfahrer in Frankreich, der zweite in leitender Funktion bei einer Marketing-Agentur und betreibt einen Online-Handel für vegane Lebensmittel. „Unser jüngster Sohn hat in England eine landwirtschaftliche Ausbildung am College gemacht“, sagt Karen Kern. Diese wurde hier als Hochschulzugangsberechtigung anerkannt und er macht im Sommer seinen Bachelor in Agrarwissenschaften.