Frau Brugger, seit Tagen fragt sich Deutschland: Was will Putin? Ist die Frage seit Montagabend beantwortet?
Seine Rede war sicherlich eine Offenbarung über die wahren Motive von Wladimir Putin. Dass es ihm eben nicht darum geht, irgendwelche angeblichen Sicherheitsbedrohungen zu beantworten, sondern darum, über die Köpfe unserer osteuropäischen Freunde und Nachbarn hinweg russische Einflusszonen im Zweifel auch mit militärischer Gewalt durchzusetzen. Da war er in seinen Ausführungen sehr klar.
Hat sich der Westen verkalkuliert? War es blauäugig, an eine diplomatische Lösung zu glauben?
Ich glaube, es war absolut richtig, wirklich alles zu versuchen, um diesen Konflikt mit Worten und nicht mit Waffen zu bearbeiten. Zugleich hat man nicht alles geglaubt, was Russland versprochen hat – wie beim angekündigten Truppenabzug. Mit einem realistischen Blick hat sich in den letzten Wochen das Bild verdichtet, dass es aus dem Kreml kein echtes Interesse an Dialog und Deeskalation gab. Aber alles zu versuchen, war notwendig und die diplomatische Lösung ist nicht an mangelnden Angeboten von unserer Seite gescheitert.
Ist die Zeit für Diplomatie nun vorbei?
Natürlich wird man weiter sprechen. Es geht immer noch darum, eine militärische Auseinandersetzung zu vermeiden. Aber Präsident Putin hat der Diplomatie einen schweren Schlag versetzt. Gleichzeitig hat er gezeigt, dass er wenig Interesse hat, mit uns Europäern auf unserem gemeinsamen Kontinent über Sicherheit ins Gespräch zu kommen, indem er den Einsatz der OSZE und das Normandie-Format mit seinem letzten Schritt massiv beschädigt hat.
Außenministerin Baerbock wirft Putin Völkerrechtsbruch vor und ruft ihn zur Umkehr auf. Das wirkt etwas hilflos, wo Putin sich doch offensichtlich keinen Deut ums Völkerrecht schert.
Einerseits akzeptiert er die Grenzen der Ukraine nicht, andererseits erkennt er die Separatistengebiete an – das sind eigentlich gleich zwei Völkerrechtsbrüche. Man hat nicht den Eindruck, dass er sich dem internationalen Recht verpflichtet fühlt. Es ist grotesk, dass er auch noch von einer Friedensmission spricht. Natürlich muss man ihn zur Umkehr auffordern und dies auch mit Sanktionen sehr hart unterstreichen.
Was wissen wir eigentlich genau darüber, was im Donbass vor sich geht? Kann man ausschließen, dass an den Behauptungen Putins, Stichwort „Genozid“, etwas dran ist?
In der Region gibt es eine OSZE-Mission, die die Einhaltung der Vereinbarungen überwachen soll. In ihren Berichten der letzten Tage wurde bereits dargestellt, dass die Beschuss und Auseinandersetzungen zunehmen. Nach den Informationen, die ich habe, ist für mich sehr klar, dass diese Eskalation nicht vonseiten der Ukraine ausgegangen ist. De ukrainischen Truppen hatten die Anweisung, auf die Eskalation nicht zu reagieren. Für die Dinge, die Präsident Putin in seiner Rede behauptet, gibt es jedenfalls keine Belege – alle Fakten sprechen dagegen.
Die EU verhängt Sanktionen. Treffen die Russland an einer empfindlichen Stelle?
Das Sanktionspaket in seiner Gänze wird massive Auswirkungen auf die russische Wirtschaft haben. Aber das scheint Putin relativ egal zu sein. Es ist trotzdem wichtig, dass man auf einen solchen Völkerrechtsbruch hart reagiert. Schon um die Botschaft zu setzen, dass man das nicht hinnimmt. Gleichzeitig hat sich die Hoffnung, dass das zu einer Verhaltensänderung auf russischer Seite führen kann, bisher nicht bewahrheitet.
Hat die EU noch Pfeile im Köcher?
Es wird eine abgestufte Antwort geben, nicht gleich das volle Sanktionspaket. Sollte es zu einem großen Angriff auf die Ukraine kommen, braucht es noch eine viel härtere Reaktion.
Die Frage ist: Wo ist die Schmerzgrenze für Deutschland erreicht? Wir sind zu 50 Prozent von russischem Gas abhängig, den Hahn zudrehen können wir kaum.
Für den Winter sind wir in der Lage, die Gasversorgung sicherzustellen, das hat die EU und die Bundesregierung sichergestellt. Gleichzeitig rächt es sich jetzt, dass es in den letzten Jahren nicht gelungen ist durch den Ausbau von erneuerbarer Energie die eigene Souveränität zu stärken. Wir haben damit Wladimir Putin unnötig Einfluss gegeben. Bei der Energiewende gibt es auch eine sicherheitspolitische Perspektive, weil wir uns so unabhängiger machen können von Machthabern, die keinen Wert auf Demokratie, internationales Recht und Klimaschutz legen.
Zurück zu Putins Rede. Putin hat darin die Eigenständigkeit der Ukraine komplett in Frage gestellt. Deutet sich da nicht schon an, dass seine Pläne weit über den Donbass hinausreichen?
Die Rede hat maximal alarmiert. Aber aus den Worten kann man noch nicht wirklich ablesen, was er tun wird. In den letzten Wochen haben wir öfter beobachten müssen, dass zwischen Wort und Tat auf russischer Seite eine große Lücke klafft. Ob es zu einer weiteren Eskalation kommt, ist natürlich die zentrale Frage, die über allem schwebt. Wobei leider niemand genau weiß, was Putin vorhat.
Was müsste man Putin geben, damit er Ruhe gibt?
Es gab ja eine Reihe von Angeboten von Seiten der Nato, über vertrauensbildende Maßnahmen zu sprechen, über Abrüstung und Rüstungskontrolle – diese Angebote sind ausgeschlagen worden. Auch das offenbart, dass es Putin nicht um irgendwelche Sorgen, sondern um brutale Geopolitik geht.
Russland wirft der Nato vor, sich viel stärker ausgedehnt zu haben, als um die Wendezeit vereinbart. Hat er da nicht doch einen Punkt?
Es spricht schon Bände, dass er diese über Jahre vorgetragene Erklärung in seiner Rede nicht als Begründung genannt hat. Aber ich halte das überhaupt für eine abwegige These, denn die letzte Nato-Osterweiterung liegt fast 20 Jahre zurück. Es gab auch gemeinsame Vereinbarungen, zum Beispiel in der Nato-Russland-Grundakte, in der russischen Sicherheitsbedenken Rechnung getragen worden ist. Diese gegenseitigen Vereinbarungen sind von russischer Seite mehrfach gebrochen worden, während die Nato sich trotzdem weiter daran gehalten hat.
War es ein Fehler der Nato, sich so weit Richtung Russland auszudehnen?
Ich bin neulich über eine Meldung aus der Tagesschau von 2002 gestolpert. Da ging es darum, wie gut die deutsch-russischen Beziehungen seien. Die Meldung war: Für einen Beitritt Russlands zur Nato sei es zu früh. Das zeigt, in welcher Situation diese Entscheidungen erfolgt sind. Auch Russland hat über Jahrzehnte die gemeinsamen Regeln mitgestaltet nach denen die Staaten in Europa frei sind, über ihre Zukunft zu entscheiden und ihre Grenzen nicht willkürlich mit Militär verändert werden dürfen.
Insofern kann ich hier keinen Fehler der Nato erkennen, es fallen mir aber durchaus andere Fehler und Versäumnisse der Vergangenheit ein. Aber nichts davon rechtfertigt auch nur ansatzweise die aggressive Politik der letzten Jahre. Das Kalkül, etwas nicht zu tun, weil es Wladimir Putin provozieren könnte, geht außerdem nicht auf – er nimmt eh jeden Anlass, um seine eiskalte Geopolitik zu rechtfertigen.
Sie sagen: Wir stehen felsenfest an der Seite unserer Freunde. Gleichzeitig liefert Deutschland nur 5000 Helme. Ist das nicht ein bisschen dürftig?
Die deutsche Unterstützung für die Ukraine ist seit vielen Jahren extrem groß. Wir sind der größte Geldgeber, unterstützen bei Fragen von Wirtschaft, Energie, Sicherheit und politischen Reformen. Wir haben gemeinsam mit Estland zuletzt ein großes von Deutschland finanziertes Feldlazarett übergeben in diesen Tagen, gerade weil immer wieder Menschen nach dem Kämpfen wegen mangelnder medizinischer Versorgung sterben. Das Unterstützungsangebot ist weit größer als nur die 5000 Helme.
Kann es passieren, dass sich Putin die Ukraine unter den Nagel reißt – und der Westen guckt zu?
Sollte es wirklich zu einem militärischen Großangriff kommen, befinden wir uns wirklich in einem neuen Zeitalter. Die EU und die USA werden nicht einfach zuschauen, sondern mit härtesten Wirtschaftssanktionen reagieren. Noch bleibt aber die Hoffnung, dass es dazu nicht kommt.
Militärisches Eingreifen schließen Sie aus?
Sowohl Biden, als auch die Nato haben klargemacht, dass sie nicht eingreifen werden. Ich sehe kein Szenario, bei dem sich das ändern würde.