Auf der Bühne des Stadttheaters Konstanz stehen an diesem Abend keine Requisiten. In dem tiefschwarzen Raum hebt sich nur ein glänzender Flügel von der Leere ab. Der Techniker hat vorsorglich bereits die Nebelmaschine angeworfen.
Davide Martello, lang und schlaksig, betritt die Bühne, setzt sich verlegen an das Instrument und legt los. Ansagen sind nicht seine Sache. Er versenkt sich sofort in seine gefühlvollen Klänge. Die Leute im Saal hören dem Mann in der schwarzen Lederjacke gebannt zu. Nicht die klassischen Theatergänger füllen an diesem Abend die roten Sessel, sondern Martellos Fans – Leute, die ihn schon in den Fußgängerzonen gehört haben, wo er sonst unterwegs ist.
Der 43-Jährige fiel bisher als eine Art musikalisches Straßenkind auf. Seit einem guten Jahrzehnt spielt er unter freiem Himmel. Er lebt von den Spenden, die ihm oft großzügig gegeben werden und vom Verkauf seiner CD. Was ihn von anderen Straßenmusikern unterscheidet: Martello versteht sich auch als Aktivist mit politischem Vorzeichen.
Sein brisantester Einsatz dürfte 2013 in Istanbul gewesen sein. Am zentralen Taksim-Platz standen sich damals Polizei und Demonstrierende gegenüber, die eine Bebauung des benachbarten Gezi-Parks verhindern wollten. Die Ordnungshüter hatten den Einsatz von Tränengas bereits vorbereitet. „Ich habe damals drei Tage lang gespielt. Deshalb konnte die Polizei nicht eingreifen“, erinnert er sich.
Seine Darstellung: Die Polizei schob ihm den Flügel unter den Fingern weg und brachte ihn in ein Magazin. „Das war eine Art Mülldeponie“, beteuert er. Mithilfe der Deutschen Botschaft erhielt er das Instrument zurück – das Werkzeug, ohne das er nicht arbeiten und leben kann.
Den Flügel zieht er hinter sich her
Die Bilder des blassen Mannes, der unbeirrt von Lärm und Polizeidurchsagen spielt, gingen damals durch die Medien. Seitdem ist Martello ein Begriff. Dabei hat er kein explizit politisches Programm. Er taucht immer dort auf, wo es Streit gibt und sich Gruppen scheinbar unversöhnlich gegenüberstehen. Oder er spielt in Straßen oder auf Brücken.
Der junge schlaksige Mann am Flügel gehört in Konstanz eine Zeit lang zum Stadtbild. Straßenmusiker gibt es viele, von Akkordeon bis Gitarre ist fast alles vertreten. Doch Martello dürfte der Einzige sein, der einen schwarzen Flügel auf Rädern hinter sich herzieht.
Der Musiker will ein neues Kapitel aufschlagen. „Ich werde zukünftig mehr im Trockenen spielen“, sagt er. Sein Manager organisiert Auftritte wie im Stadttheater Konstanz. Im Laufe des Jahres wird er in VS-Villingen auftreten, später in Stuttgart, schließlich beim renommierten Zeltmusikfestival in Freiburg.
Auf den Auftritt im legendären Spiegelzelt freut er sich. Martello verliert sich, sobald er an den schwarzen und weißen Tasten sitzt. In den Fußgängerzonen gab er vor allem Hits zum Besten, die er auf Zuruf spielte. Aus den Spontanauftritten sollen Konzerte werden, bei denen er seine Kompositionen vorträgt.
Davide Martellos musikalische Ausbildung ist überschaubar. In Tuningen (Schwarzwald-Baar-Kreis) besuchte er einige Jahre die Musikschule. Dort lernte er die Grundzüge des Klavierspiels. Dabei ist es geblieben. Später bewarb er sich an der Hanns-Eisler-Hochschule für Musik in Berlin; der Antrag wurde abgewiesen. Seine Kenntnisse hätten nicht genügt, hieß es damals.
Sicherlich gibt es Pianisten, die ihm technisch weit überlegen sind. Das wird auch im Stadttheater Konstanz an diesem Abend deutlich. Die Muster wiederholen sich. Er mischt Minimal Music mit Ballade, das rechte Pedal – für den Nachhall – bleibt immer lange gedrückt. Die Stücke klingen häufig nach „Die wunderbare Welt der Amelie“. Und doch: Seine Zuhörer sind berührt, und das zählt am Ende. Reichtümer kann er als kultureller Akteur bisher nicht anhäufen.
Wenn er von Stadt zu Stadt zieht, übernachtet er auf Rastplätzen im Zelt. Lange Zeit wohnte er in Konstanz. Doch die Stadt ist ihm zu teuer geworden. So zog er in den südlichen Schwarzwald um. In Nöggenschwiel bei St. Blasien fand er eine günstige Bleibe. Ein sehr ruhiger Ort für einen Musiknomaden.
Seltsame Aktion im Jahr 2024
Im vergangenen Jahr machte er durch eine seltsame Aktion auf sich aufmerksam: In den Nachrichten hatte er von einem Jungen namens Arian erfahren. Der sechs Jahre alte Autist wurde bereits seit Tagen vermisst. Er fuhr kurz entschlossen nach Bevenvörde in Niedersachsen, um bei der Suche zu helfen, indem Arian „durch meine Musik angelockt wird“.
Der Junge habe vor seinem Zelt gestanden, als er auf einem Rastplatz übernachtete, so erzählt er es. Das sei morgens um fünf Uhr gewesen, erinnert sich Martello. Der Junge lief weg. Martello benachrichtigte die Polizei, die Suche blieb erfolglos. Wochen später wurde der Junge tot aufgefunden.