Herr Kretschmann, das Geschäftsmodell von Baden-Württemberg ist unter Druck. Billige Energie aus Russland gibt es nicht mehr, wichtige Exportmärkte brechen weg. US-Präsident Donald Trump hat die Einführung von Zöllen in Höhe von 25 Prozent auf Produkte aus der EU angekündigt. Das träfe auch Autos und Maschinen, die Top-Exportartikel des Landes. Müssen wir in Baden-Württemberg unser Geschäftsmodell ändern und vielleicht auch andere Branchen in den Fokus nehmen?
Ja, das müssen wir. Und das tun wir als Landesregierung auch…
Allein die Autoindustrie und der Maschinenbau stehen aber immer noch für mehr als die Hälfte der Industrieumsätze im Land…
Aber es dreht sich. In meiner Amtszeit habe ich beispielsweise das „Forum Gesundheitsstandort Baden-Württemberg“ ins Leben gerufen. Gesundheitsprodukte und -Dienstleistungen sind mittlerweile eine starke Säule der Wertschöpfung im Südwesten. Denken Sie an das sogenannte Weltzentrum für Medizintechnik rund um Tuttlingen. In anderen Regionen, etwa in Oberschwaben, haben sich Biotechnologie-Cluster herausgebildet, die sich auch in der aktuellen Krise sehr gut schlagen.
Diese Dinge forcieren wir. Generell wachsen alle Dienstleistungen rund um die medizinische Versorgung von Menschen. Unsere Gesellschaft wird älter, die Behandlungen werden anspruchsvoller, insbesondere, weil sie zunehmend auf Technologien wie künstliche Intelligenz zurückgreifen.
Dann heißt die Strategie Cyber Valley statt Silicon Valley?
Dass in der Digitalisierung ein Schlüssel für die Zukunft liegt, ist längst erkannt. Das Cyber Valley rund um Stuttgart und Tübingen oder die Innovationsregion rund um das Karlsruher KIT sind schon seit Jahren sehr erfolgreich. Bei diesen Zentren bleibt es aber nicht. Im Moment entsteht in Heilbronn das IPAI. Es soll zum größten Netzwerk für Künstliche Intelligenz in Europa werden. Der Schwerpunkt liegt auf der Kommerzialisierung.
Baden-Württemberg ist heute Europas führende Region für Künstliche Intelligenz. Wir sind im Südwesten also voll dabei, neue Standbeine neben Automobil, Chemie und Maschinenbau zu entwickeln und zu stärken.
Immer mehr Firmen im Land wenden sich der Rüstung zu. Kürzlich hat der Laser-Weltmarkführer Trumpf aus Ditzingen, ein Unternehmen, das sich an christlichen Werten orientiert, angekündigt, Laser für Verteidigungsanwendungen zu entwickeln. Und nicht nur Trumpf geht in diese Richtung. Was halten Sie davon?
Viel.
Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann: Rüstung „ist eine Chance“
Können Sie das erläutern?
Wir leben mitten in der Zeitenwende. Wir sehen die brutale Aggression Russlands gegenüber der Ukraine. Wir sehen das Aufkommen neuer imperialer Bündnisse und wir sehen, wie sich der US-Präsident mit dem Aggressor Putin verbündet und über die Köpfe der Ukrainerinnen und Ukrainer hinweg über deren Schicksal entscheidet.
Das heißt für Europa, es muss selbst seine Verteidigung in die Hand nehmen. Es muss selbst eine potente Rüstungsindustrie aufbauen. Und da wollen wir in Baden-Württemberg mitmischen.
Wie soll die Strategie fürs Land aussehen?
Wir müssen es in diesem Bereich genauso machen, wie wir es bei zivilen Anwendungen gemacht haben und immer noch tun. Das heißt, wir müssen auch in der Verteidigung Hochtechnologie herstellen. Wir haben ja schon Schlüsselakteure bei uns im Land, die so etwas können. Etwa die am Bodensee ansässige Firma Diehl Defence, die weltweit führend bei bestimmten Systemen zur Luftverteidigung ist und übrigens auch mit ihrer Raketenabwehr den ukrainischen Luftraum schützt.
Technologieführerschaft muss aber unser Anspruch in der gesamten Verteidigungswirtschaft sein. Das wird ein neuer industrieller Schwerpunkt für Baden-Württemberg werden, da bin ich mir sicher.
Wie kann eine Landesregierung so einen Prozess gestalten?
Wir können den Unternehmen beispielsweise helfen, sich zu vernetzen. Nicht nur in Baden-Württemberg, sondern darüber hinaus, also national und international. Das Ziel muss der schrittweise Aufbau einer europäischen Rüstungsindustrie werden.
Der Prozess umfasst übrigens auch zivile Bereiche der Wirtschaft. Auch hier müssen die Firmen ertüchtigt werden, mehr in den Verteidigungssektor hineinzuliefern. Früher nannte man das Dual Use, und man hat ungern darüber geredet. Heute ist so etwas aber nötig und wichtig.
Sie sehen Rüstung also als Chance für die Wirtschaft und die Jobs in unserem Bundesland?
Ja, das ist eine Chance. Die deutschen Rüstungsausgaben werden in den kommenden Jahren stark ansteigen. Im Raum steht das Ziel von drei Prozent Anteil der Rüstungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt. Oder sogar noch mehr. Daher ist klar, dass der Bereich ein wichtiger Wirtschaftsfaktor wird. Wir müssen mit unserer potenten Hochtechnologie dabei sein.
Eines ist mir dabei wichtig. Es darf uns immer nur um Verteidigung gehen. Rüstung ausbauen, um sie nicht einzusetzen zu müssen, muss die Prämisse sein. Es geht um Abschreckung. Wir wollen keine Kriege führen, sondern wir machen das, damit Aggressoren es nicht wagen, uns anzugreifen.
Sie klingen sehr entschlossen. Haben Sie keine ethischen Bedenken? Immerhin haben die Grünen eine ihrer Wurzeln in der Friedenspolitik?
Da habe ich überhaupt keine Bedenken. Ich war noch nie ein Pazifist. Meine Partei allerdings schon, aber die Grünen haben diese Debatte eigentlich schon seit dem Kosovo-Krieg 1999 hinter sich gelassen. Das ist ausgestanden. Wir sind heute diejenige Partei, die am klarsten bei der Unterstützung der Ukraine ist, auch mit Waffen.

Bis neue Industrien die wie Rüstung ausgebaut sind, dauert es Jahre. Im Moment schrumpft die Industrie in Baden-Württemberg, wir verlieren Wohlstand. Sie sind jetzt noch rund ein Jahr im Amt. Was werden wir uns künftig nicht mehr leisten können?
Weniger zu arbeiten, bei vollem Lohnausgleich. Es muss mehr Leistungswille und Leistungsorientierung rein in die Köpfe der Menschen. Deutschland gehört zu den Industrienationen mit der geringsten Arbeitszeit pro Kopf und Jahr. Das Problem ist, dass man es sich nur leisten kann, weniger zu arbeiten und den Lohn gleich zu halten, wenn man produktiver wird. Oder wenn es gelingt, Produkte herzustellen, die andere nicht so gut oder überhaupt nicht herstellen können.
Das war früher in Deutschland der Fall, aber gerade ist das nicht mehr so. Und deswegen müssen wir jetzt wieder die Ärmel hochkrempeln und mehr arbeiten. Der Gedanke muss dringend bei allen ankommen. Wenn wir uns bei den Produktivitätsfortschritten dann wieder an die Spitze der Länder gesetzt haben, dann können wir auch wieder eine Gang zurückschalten. Im Moment ist das aber keine Option.
Die von Ihnen angeführten Zahlen zur Arbeitszeit rechnen nicht ein, dass es Deutschland seit der Jahrtausendwende gelungen ist, beispielsweise sehr viele Frauen in den Arbeitsmarkt zu bringen, die oft teilzeitbeschäftigt sind. Das führt dazu, dass die Jahresarbeitszeiten pro Kopf in Deutschland gegenüber Ländern wie der Schweiz niedrig sind…
Das ist richtig, aber es gibt andere Faktoren, etwa Urlaubs- oder Feiertage, wo wir in Deutschland üppig aufgestellt sind. Klar ist, dass die Vereinbarkeit von Arbeit und Familie gewahrt werden muss. Natürlich ist immens wichtig, dass es gute Teilzeit-Möglichkeiten für Menschen gibt, die nebenher noch Kinder erziehen oder Alte pflegen. Mir geht es um all jene, die gesund sind und für die das nicht zutrifft. Hier muss ein anderer Wind wehen.