Es war der 29. August 2019, gegen 3.20 Uhr, als Polizisten am A7-Grenztunnel in Füssen im Allgäu einen Kleinbus bei der Einreise nach Deutschland stoppten, in dem vier Syrer als Fahrgäste saßen. Alle hatten keine gültigen Einreise-Papiere.
Schon bald nach jenem Aufgriff im August 2019 wurde den Ermittlern klar, dass es sich nicht um einen Einzelfall, sondern offensichtlich um ein komplexes Geflecht einer europaweit agierenden Schleuserbande handelte. Die Täter sollen gut organisiert gewesen sein. Vor dem jeweiligen Schleuserwagen fuhr meist ein sogenanntes Scout-Auto voraus, um vor möglichen Kontrollen zu warnen. Im Prozess geht es um 13 Fahrten über verschiedene europäische Grenzen: Darunter Vorfälle auf der sogenannten Balkanroute über Ungarn durch Österreich und ein Fall an der deutsch-dänischen Grenze. Bei einigen mutmaßlichen Schleusungen sollen die Angeklagten wissentlich das Leben der Geflüchteten riskiert haben, die teilweise zu zehnt eingepfercht in Kleinbussen versteckt wurden.
Anklageschrift mit 42 Seiten
Der organisatorische Aufwand für die Justiz ist enorm: Um jetzt neun Angeklagte und 16 Verteidiger unterzubringen, wurde eigens der Fürstensaal der Kemptener Residenz zum Gerichtssaal umfunktioniert. Aus zwei Dolmetscher-Kabinen wird simultan übersetzt. Die Angeklagten – bis auf zwei sind sie syrische Staatsbürger – verfolgen über Kopfhörer das Prozessgeschehen in ihrer Landessprache.

Kopf der Bande soll ein 30 Jahre alter Syrer sein, der Ende 2020 in Österreich festgenommen wurde. Laut Staatsanwaltschaft versuchte er zu fliehen und raste mit seinem Wagen der Polizei davon – mit mehr als 180 km/h. Die Beamten gaben zwei Warnschüsse ab. Nachdem es den Polizisten gelungen war, den Mann zu stoppen, floh der 30-Jährige zu Fuß. Dennoch wurde er wenig später festgenommen – genauso wie neun geschleuste Insassen eines Kleinbusses. Über eine Stunde dauerte es am Dienstag, bis der Staatsanwalt die 42 Seiten umfassende Anklageschrift verlesen hatte, die dem SÜDKURIER vorliegt.
Bis zu zehn Jahre Haft drohen
Pro geschleustem Menschen kassierten die Angeklagten laut Staatsanwaltschaft meist um die 5.000 Euro. Abgerechnet wurde über dubiose, sogenannte Hawala-Büros. Deren Praktiken sind in Deutschland verboten, da sie nicht der Finanzaufsicht unterliegen und vor allem der Geldwäsche aus illegalen Geschäften dienen sollen.
Zu den ihnen zur Last gelegten Taten machten alle neun Angeklagten zunächst keine Angaben. Für den Fall von Geständnissen stellte das Gericht ihnen einen voraussichtlichen Strafrahmen in Aussicht. Demnach müsste der Bandenchef bei einem vollständigen Geständnis mit einer Freiheitsstrafe von etwa siebeneinhalb Jahren rechnen – das Strafmaß beträgt bis zu zehn Jahre. Vier Angeklagte könnten mit einer Bewährungsstrafe davonkommen. Die anderen bekämen bis zu viereinhalb Jahre Haft.

Das Urteil ist für 2. Dezember geplant. Gelingt jedoch eine Verständigung zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung, könnte sich die Verfahrensdauer deutlich verkürzen. Für jeden Verhandlungstermin müssen die neun Beschuldigten aus teils weit entfernt gelegenen Gefängnissen gebracht werden – unter anderem aus Nürnberg und Mühldorf am Inn. Für alle Angeklagten gilt die Unschuldsvermutung solange, bis sie rechtskräftig verurteilt sind.