„Das war mir zu wenig Arbeit, da bin ich krank geworden“, sagt Hans J. Der gelernte Maurermeister erzählt da gerade von seiner Zeit im Bauamt einer Verwaltungsbehörde. Geregelte Arbeitszeiten, eine 40-Stunden-Woche – das war ihm nicht genug.
Die meiste Zeit seines Erwerbslebens sah eher so aus: Im Sommer neun oder zehn Stunden auf einer Großbaustelle; danach mit einem Kollegen noch drei bis vier Stunden auf privaten Baustellen weitergemacht. J. (Name von der Redaktion geändert), so sagt er das selbst, ist ein Workaholic, ein Arbeitssüchtiger.
Wache Augen, müder Körper
Der 62-Jährige sitzt an einem quadratischen Tisch für zwei in seiner Konstanzer Einzimmerwohnung. J. ist ein kleiner Mann, mit wachen Augen hinter einer dicken Brille und scharfem Blick für Details. Wenn er durch seine frisch renovierte Wohnung geht, verteilt er den Handwerkern Noten: „Der Fliesenleger eine 2,7...“ Er ist aber nachsichtig: „Klar, Renovierungen für ein Großunternehmen – die müssen schnell gehen und günstig sein.“
Wenn er so darüber spricht, ist gut herauszuhören, dass er das am liebsten alles selber gemacht hätte: die Wand verputzen, die Fliesen legen, die Armaturen montieren. J. hat aber Glück, dass er überhaupt wieder eine Wohnung hat – „ein Sechser im Lotto“, wie er sagt.

Denn so wach seine Augen sein mögen, so müde ist sein Körper. J. ist seit fünf Jahren arbeitslos. Weil er nicht mehr arbeiten kann. Weil er zu viel gearbeitet hat, süchtig danach war und krank geworden ist, verlor er sogar seine Wohnung, wäre er beinah auf der Straße gelandet.
Ein Zehntel der Deutschen gilt als arbeitssüchtig
Damit steht er nicht allein da. In repräsentativen Befragungen kommen Forscher für Deutschland auf einen Anteil von zehn Prozent Arbeitssüchtigen unter den Erwerbstätigen. Ein deutlicher Zusammenhang zeigt sich vor allem bei selbstständiger Arbeit: Hier sind 14 Prozent betroffen. Auch Führungskräfte sind besonders anfällig, heißt es in einer Studie der gewerkschaftsnahen Böckler-Stiftung.
Hans J. war beides: Führungskraft und selbstständig. Er sieht den Ausgangspunkt für sein krankhaftes Verhältnis zur Arbeit aber früher: „Das ist familiär bedingt“, sagt er. „Eigentlich hat das schon in der Kindheit angefangen.“ Seine Eltern hätten zwar nie Druck ausgeübt, erzählt J. „Aber die gesamte Familie und Verwandtschaft waren sehr leistungsorientiert.“ Schon der Willkommensgruß habe sich ums Berufliche gedreht, um die Frage, wo er stehe. „Das ist ein psychologischer Druck, ein unbewusster“, sagt J. heute. „Das realisiert man erst sehr spät – wenn es schon zu spät ist.“
J. macht Karriere
J. aber startet ganz normal in sein Berufsleben. Nach seiner Maurerlehre hat er Angebote für Baustellen in den Arabischen Emiraten und Dubai. Wegen seiner damaligen Freundin entscheidet er sich dagegen. Er wird Vorarbeiter in seinem Lehrbetrieb, der ihn unbedingt halten will. Vier Jahre später macht er seinen Meister, da sei dann schon klar gewesen, dass sein Chef ihn nicht weiter würde beschäftigen können – zu teuer.
„Außerdem war er ein Geizkragen und Choleriker“, sagt er und lacht. Bei seinem neuen Arbeitgeber habe er dann täglich neun Stunden in der Firma gearbeitet und sei danach noch für drei oder vier Stunden auf Graubaustellen gefahren, halblegale Arbeit also.
Arbeitsbelastung? Zu gering
Es folgten die Jahre beim Tiefbauamt in Ludwigsburg, begleitet von Krankheiten – wegen der zu geringen Arbeitsbelastung, wie J. sagt. „Der Job war super, aber das war mir zu wenig Arbeit. Ich bin krank geworden. Richtig krank. Am Hals habe ich alles bekommen, was man sich vorstellen kann. Vorher hatte ich sowas nie.“
Nach einer kurzen Zeit bei der Bundeswehr wird er bei einem großen baden-württembergischen Unternehmen Bauleiter, baut Brücken und Straßen, macht noch eine Zusatzausbildung in Betontechnologie, erzählt er sichtlich stolz.
Sein Chef in der Rottweiler Niederlassung des Unternehmens kündigt bald seinen Ruhestand an, mit dem designierten Nachfolger will Hans J. nicht arbeiten. Nach der friedlichen Revolution in der DDR wird er Geschäftsführer einer neuen Baumarkt-Filiale in Leipzig. Er pendelt, alle vier Wochen fährt er nach Hause. Seine erste Ehe geht daran kaputt. „Das Geschäft hat immer im Vordergrund gestanden“, sagt J. heute.
Schwieriger Einstieg in die Selbstständigkeit
Aber warum? „Ich habe einen großen inneren Antrieb gehabt. Natürlich habe ich gewusst, dass es irgendwo Grenzen gibt, allein wegen meiner Ausbildung, ich bin schließlich kein Ingenieur.“ Wenn die Arbeit nach wenigen Jahren aber zur Routine wurde, dann fehlte ihm der Kick, wurde ihm langweilig, sagt er. „Dann machte sich eine innere Unruhe in mir breit.“ Also macht er sich selbstständig. Er lernt seine spätere zweite Frau kennen und zieht an den Bodensee. Es dauert, bis er Fuß fasst. „Die ersten zwei, drei Jahre war es wirklich knapp. Da habe ich mitunter weniger verdient, als ich jetzt Sozialhilfe bekomme“, erzählt J.
Bald geht es aber aufwärts – erst ein Mitarbeiter, dann zwei, später zehn. Die Aufträge werden größer, das Geschäft floriert. Bis hierhin ist das eine Biografie mit Höhen und Tiefen, wie sie wohl die meisten Menschen kennen. Irgendwann aber: die eine Baustelle zu viel, so beschreibt J. das. „Die ist total daneben gegangen.“ Als Chef trägt er die Verantwortung. Heute sagt J., er hätte früher erkennen müssen, dass es so nicht funktionieren kann. „Ich hatte aber einen Scheuklappenblick.“
„Da hat es mir den Vogel rausgehauen“
Es folgt die Zahlungsunfähigkeit, die ihn aber nicht lange aufhält. „Am Dienstag habe ich die Insolvenz angemeldet und am Mittwoch die neue Firma“, blickt der 62-Jährige zurück. Er habe dann keine großen Sachen mehr gemacht. Gute zehn Jahre arbeitet er so, auch mal im Ausland, verdient wieder gutes Geld.
Einmal kehrt er voller Vorfreude nach mehrmonatiger Arbeit in Dänemark zurück nach Hause, will mit dem dort Verdienten die eigene Wohnung auf Vordermann bringen. „Und dann hat meine Frau gesagt, wir haben kein Geld. Da hat es mir den Vogel rausgehauen.“ J. prüft seine Bücher, über die Jahre fehlt eine sechsstellige Summe. Bis heute weiß er nicht, wo das Geld hin ist. Seine Frau hat es ihm bis heute nicht gesagt.
Dann kommt der Absturz. Die Trennung. Der Alkohol. „Ich war psychisch am Ende“, sagt er heute. Bis dahin habe er nie Probleme mit Alkohol gehabt. „Das war der Anfang vom Ende“, erzählt er in seiner Küche. „Ich habe dann zwar noch weitergearbeitet, aber mehr schlecht als recht.“
„Als hätte ich Sekundenkleber am Hinterteil“
Es folgt ein Burnout. „Ich habe am Tisch gesessen und wollte zur Arbeit. Ich konnte aber nicht mehr aufstehen. Um auf auf die Toilette zu gehen? Kein Problem. Aber zur Arbeit? Das hat mein Kopf nicht mitgemacht. Es war, als hätte ich Sekundenkleber am Hinterteil“, erinnert sich Hans J. Dazu die schwerer werdende Alkoholkrankheit.
„Irgendwann habe ich einen kalten Entzug gemacht“, sagt er. „Nach einer Woche bin ich dann bewusstlos umgeflogen.“ Er hatte Glück, der Nachbar war da, hat den Rettungswagen gerufen und ihm die Atemwege freigemacht von Erbrochenem. „Ich bin erst im Krankenhaus wieder zu mir gekommen, als ich in so einem Wägelchen durch die Gänge geschoben worden bin. Ich erinnere mich noch an das Licht: hell, dunkel, hell, dunkel, alles in einen Schleier gehüllt.“
Später kommt eine Sozialarbeiterin der Klinik zu ihm und sagt, er habe ein Problem, müsse ein Therapie machen. „Das war für mich wie ein Hammerschlag. Ich beim Psychologen? Das braucht man doch nur, wenn man bekloppt ist!“ J. erbittet sich Bedenkzeit, er weiß, dass es ernst steht um ihn.
Karriere auch im Ehrenamt
Er fängt wieder an zu arbeiten, in einem Minijob. Das frustriert ihn, ist er doch deutlich überqualifiziert. Andere Möglichkeiten gibt es aber nicht so recht. J. beginnt sich im Technischen Hilfswerk zu engagieren und macht dort schnell ehrenamtliche Karriere: „Ich bin bald Gruppenführer geworden und konnte die großen Baumaschinen fahren. Da habe ich mich wieder wohlgefühlt.“ Er hilft 2021 auch nach der Flutkatastrophe im Ahrtal. Oder im Jahr davor bei dem Güterzugunglück in Freiburg.
Nach einem Arbeitsunfall und einer Fehldiagnose ist ein Knie kaputt. Er arbeitet weiter, nimmt jeden Tag sechs Ibuprofen, damit es geht, manchmal noch mehr. Irgendwann sagt ihm ein Arzt, dass er das nicht mehr lange überleben würde: Die Schmerztabletten machten seine Organe kaputt.
J. startet noch einen Versuch mit einem Praktikum in einer Behindertenwerkstatt, das er vorzeitig abbrechen muss: „Ich konnte körperlich nicht mehr“, sagt er heute. Es folgt ein letzter Besuch in der Arbeitsvermittlung. „Die Sachbearbeiterin sagte mir, ich sei kein Fall fürs Jobcenter, wir würden uns keinesfalls wiedersehen, da bräuchte auch kein Amtsarzt mehr drüber schauen.“ J. bekommt sofort einen Schwerbehindertenausweis.
Weil er – vom Burnout gefesselt – verwahrlost, verliert er in jener Zeit damals auch seine Wohnung. Er muss zwar nicht auf der Straße schlafen, weil er immer wieder bei Freunden oder Familie unterkommen kann. Auf eine eigene Wohnung hat er ohne eigenes Einkommen und mit Schufa-Eintrag aber keine Chance mehr.
Angst, sich wieder zu übernehmen
J. kommt zur AGJ-Wohnungslosenhilfe Konstanz. Eine Mitarbeiterin muss lange und intensiv mit ihm arbeiten, damit er verkraften kann, „damit ich hinnehme, dass ich nicht mehr arbeiten kann.“ Zwei Jahre ging das. Nun hat er seit einigen Monaten wieder ein eigenes Dach über dem Kopf. Gemeinsam mit dem Wohnbaukonzern Vonovia vergibt die AGJ Wohnungen an Menschen aus ihren Hilfeprojekten, Hans J. ist einer von ihnen.
Er hat sich gefangen. Und sagt: „Heute würde ich die Dinge anders machen. Mir Zeit nehmen für Familie und Freunde.“ Ob ihm das so gelänge? Hans J. traut sich nicht einmal mehr, sich weiter beim THW zu engagieren: aus Angst, sich wieder zu übernehmen.
Auch heute noch läuft er an Baustellen vorbei und nähme am liebsten einen Hammer in die Hand, um wieder loszulegen, sagt er. Und manchmal übernimmt J. sich auch ganz real: Als er seine Küche in die neue Wohnung einbaut, schlägt er Hilfe aus, hängt die schweren Wandschränke selbst auf. „Danach musste ich erstmal vier Tage Pause machen“, sagt er. Und lächelt wie einer, der weiß, dass er manche Dinge niemals lernen wird.