Immer wieder kommen dem Angeklagten Ralf S. die Tränen, als er von seinen zwei gescheiterten Ehen erzählt. Als er mit brüchiger Stimme die Konflikte um das Sorgerecht für seine vier Kinder anspricht. Als er berichtet, wie ihm „alles über den Kopf gewachsen ist“, weil er neben seinem Dachdeckerbetrieb in Horb am Neckar zeitweise auch noch die Kneipe eines Freundes in Rottenburg übernahm. Und wie er als junger Mann auf einer Baustelle von einem Dach acht Meter in die Tiefe stürzte, danach „minutenlang nicht mehr atmete“ und beim Aufwachen gedacht habe, er liege in einem Sarg.
Fast zwei Stunden geht das so am Montag im Stammheimer Verhandlungssaal des Oberlandesgerichts (OLG) Stuttgart, wo im Zusammenhang mit den mutmaßlichen Staatsstreich-Plänen der Reuß-Gruppe gegen neun Angeklagte wegen Mitgliedschaft in einer Terrorgruppe verhandelt wird.
Ralf S. weint immer wieder, bittet mehrfach um Unterbrechung wegen seines Tinnitus-Leidens, beschwert sich über seine Ex-Frauen, denen es nur ums Geld gegangen sei und die ohne sein Wissen die Pille abgesetzt hätten, um schwanger zu werden. Das alles liest der 58-jährige Horber Dachdeckermeister von einem handschriftlich verfassten Manuskript ab.
„Dann kam Corona“, leitet der Angeklagte schließlich abrupt sein erstes, von Reue getragenes Teilgeständnis ein. Eine Phase in seinem Leben, die er „heute nur bedauern kann“, sagt er später auf Nachfrage des Vorsitzenden Richters Joachim Holzhausen.
Mit der Corona-Impfung fing alles an
Alles habe damit angefangen, dass seine zweite Ex-Frau seinen jüngsten Sohn impfen lassen wollte, er aber große Zweifel gehabt habe. In einem Video aus China habe er gesehen, wie ein Mann auf der Straße einfach umfällt. Das Video sei aber von 2008 gewesen, wie seine Nachforschungen ergeben hätten.
Durch weitere Recherchen im Internet und Informationen aus Chats tauchte er dann immer mehr ins Milieu der Querdenker und schließlich auch in die Reichsbürger-Ideologie ab. Er habe vieles hinterfragt. Aber je mehr er herumgestochert habe, „desto trauriger und wirrer wurde ich“.
Und so schaltete der freundliche und seriös wirkende Handwerker, dem frühere Kunden vermutlich ohne Scheu ihre Wohnungsschlüssel ausgehändigt haben, auf Konflikt: Zunächst nahm er an Demonstrationen von Corona-Leugnern in Horb teil, später gehörte er zu den Organisatoren, rief trotz Versammlungsverboten zum sogenannten Gassigehen auf und veranstaltete einen großen Auto-Corso. Es hagelte Geldbußen und Strafbefehle.
Doch in der Anklageschrift der Bundesanwaltschaft geht es um Vorwürfe von anderem Kaliber. Die neun Männer hinter der Panzerglasscheibe sollen den militärischen Arm der Terrorgruppe um den Frankfurter Unternehmer Heinrich Prinz Reuß gebildet haben und dafür verantwortlich gewesen sein, den geplanten Umsturz mit Waffengewalt durchzusetzen.
Seine Aufgabe: Mitglieder rekrutieren
Ralf S. war demnach Leiter der „Heimatschutzkompanie Nr. 221“ und damit zuständig für das Gebiet Tübingen/Freudenstadt. Sein Job: die Einheit personell und materiell aufstellen und Mitglieder rekrutieren. Auch am Ausarbeiten der Verschwiegenheitserklärung sei er beteiligt gewesen, so der Vorwurf.
Die Heimatschutzkompanie kommt am Montag noch nicht zur Sprache. Aber der Horber räumt ein, mit der Verschwiegenheitserklärung zu tun gehabt zu haben. Einer der Mitangeklagten habe dazu aufgefordert, in die Erklärung, die alle Mitglieder der Gruppe unterschreiben sollten, auch die Androhung der Todesstrafe für Verräter aufzunehmen.

Gemeint ist Marco H. aus dem Landkreis Karlsruhe, der laut Anklage zur Führung des militärischen Arms gehört und dabei vorgetäuscht habe, direkten Kontakt zur „Allianz“ zu haben – dem angeblichen Geheimbund, der Deutschland „befreien“ sollte.
Der 58-jährige Angeklagte gab auch an, einen der beiden mutmaßlichen Rädelsführer der Terrorvereinigung, Rüdiger von P., kennengelernt zu haben. Diesen habe er als „Vollblut-General“ und als „überzeugend“ erlebt. Er habe immer wieder an den Thesen gezweifelt, aber es damals nicht anders gewusst. „Ich war nicht ganz bei mir zu der Zeit“, sagt er.
Später in der Untersuchungshaft habe er dann Hilfe bei der Beratung Konex gesucht, die Extremisten beim Ausstieg aus ihrer Szene unterstützt. Das Landeskriminalamt Baden-Württemberg hat seine Anfrage dem Gericht bestätigt.
Ralf S. hatte schon zu Prozessbeginn Ende April angekündigt, Angaben machen zu wollen. Seine Aussage verzögerte sich aber aus gesundheitlichen Gründen um Monate. Am Mittwoch soll er weiter aussagen und befragt werden. In der Pandemie hatte er sich übrigens zuletzt doch noch impfen lassen – wohl eine Art Selbsttest. Nebenwirkungen habe er nicht verspürt, gibt er an.