Er atmet schwer, schluchzt, rauft sich die kurzen, lockigen Haare. „Ich muss jetzt stark sein“, sagt der 29-Jährige, ehe er sich selbst links und rechts ohrfeigt. Einen Tag bevor das Urteil des Landgerichts Waldshut-Tiengen verkündet werden wird, spricht der Angeklagte. Endlich. Nur viele Antworten liefert er nicht.
Er wolle jetzt das Leben führen, das sich seine Eltern für ihn gewünscht haben, sagt er. Er wolle sie stolz machen. Ihr Tod ist erst wenige Monate her, davon erfuhr der Angeklagte hinter Gittern. Der Mann aus Dogern redet über sich, sein Leben, wie es aus den Fugen geriet – und wie es sich angefühlt hat, im Gefängnis seinem Vater gegenüberzusitzen und nicht zu wissen, wer das ist. Nur über den Morgen des „Horrortags“, diesen 21. März 2024, kann er nichts sagen. Er könne sich einfach nicht erinnern.
Ein Leben lang Opfer?
Seine Aussage kennt nur eine Perspektive. Es ist die eines Opfers: Mitschüler stellten ihn im Internet bloß, Lehrer schikanierten ihn. Und sein Körperbau verhinderte, dass er als Fallschirmjäger Abenteuer erleben konnte. Immer wieder versuchte er, sein Leben zu ändern, brachte sich selbst das Programmieren bei und absolvierte eine Ausbildung zum Informatiker in Basel.
Er wollte im Elsass leben, Deutschland hinter sich lassen. Alle Wege schienen ihm offen, sagt er, bis er Ende 2018 am Hochrhein überfallen und verprügelt wurde – unter den Tätern sei der neue Partner seiner Ex-Freundin, der Spaß daran habe, ihn zu quälen, gewesen.
Mitschüler den Hals aufgeschlitzt
Während der Mann freigesprochen wurde, wurde immer nur er verurteilt: Weil er mit 15 Jahren seinem Mitschüler den „Hals aufschlitzte“, wie es der Richter während der Urteilsbegründung nannte. Weil er seine Ex-Freundin im Internet stalkte, mobbte und bedrohte, bevor er sich der Staatsgewalt zuwandte – und auch diesen später drohte, sie umzubringen. Mehrfach rückte die Polizei in Dogern an, durchsuchte das Haus, schickte das SEK.
Der Mann wurde oft verurteilt, sollte sich bewähren, tat es aber nicht. Zuletzt stand er im Sommer 2024 vor dem Amtsgericht Waldshut-Tiengen, unter anderem weil er einen Staatsschützer als pädophil diffarmiert und Jahre lang im Internet angeprangert hat. Er veröffentlichte Wohnort und Bilder des Mannes, er setzte gar ein Kopfgeld aus. Der Polizist ließ sich später versetzen.
Eine „kombinierte Persönlichkeitsstörung“
Was treibt einen Menschen zu so etwas? Kann man dem Mann glauben, dass er Monate lang sein früheres Leben vergaß? Das konnte auch der psychiatrische Sachverständige nur bedingt aufklären. Vier Mal habe er den Angeklagten befragt, mehrere Tests unterzogen. Sowohl vor als auch nach der Amnesie. Als er ihn das erste Mal traf, habe er emotional ausgeglichen gewirkt, so der Sachverständige.
Zwar stellte der Experte keine Hinweise auf eine Psychose oder schwere seelische Störung fest. Doch diagnostizierte er eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit Identitäts- und Selbstwertkonflikten. Diese sei aber nicht so schwerwiegend, dass der Dogerner nicht voll schuldfähig sei.

Die Amnesie, zumindest auf den Tag im März bezogen, sei nachvollziehbar. Hirnschäden habe man nach dem Sturz nicht festellen können. Seine Legalprognose, also die Frage zur künftigen Gefährlichkeit des Mannes: eher ungünstig.
Versuchter Mord statt Totschlag
Die Staatsanwaltschaft hatte am Donnerstag noch auf versuchten Totschlag plädiert und dafür vier Jahre und sechs Monate gefordert. Da eine Vorstrafe auch berücksichtigt werden muss, forderte sie eine Gesamtstrafe von fünf Jahren. Der Verteidiger sah nur eine gefährliche Körperverletzung und beantragte zwei Jahre und sechs Monate, mit den Vorstrafen insgesamt drei Jahre.
Die Kammer um Richter Martin Hauser kommt wieder zu einem anderen Ergebnis, nach vier Tagen Beweisaufnahme: Der 29-Jährige wird wegen versuchten Mordes zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und acht Monaten verurteilt, als Gesamtstrafe hält man sechs Jahre und acht Monate für angemessen.
„Wir hoffen, dass dies Ihr letzter Kontakt mit der Justiz war“
Der Angeklagte habe sich seit Jahren an der Justiz und den staatlichen Organen gerieben, wobei sein Vater einen prägenden Einfluss auf ihn ausgeübt habe. In den vergangenen drei Jahren sei immer mehr „Gift in sein Denken“ geflossen, als er Richter, Polizisten und Staatsanwälte als „Herrenmenschen“ und „Mitglieder der Köter-Rasse“ beleidigt habe.
Hauser: „Das hinterlässt Spuren im Kopf.“ Der Angeklagte verfolgte die Urteilsbegründung regungslos, die Hände gefaltet auf dem Tisch liegend.
Ohne Rücksicht auf Verluste
Aus Sicht der Kammer komme nicht nur ein Tötungsversuch in Betracht, sondern auch niedere Beweggründe als Mordmerkmal. Entweder wollte der damals 28-Jährige einen Polizisten töten, weil dieser Polizist ist, oder er wollte fliehen und sich den Weg freistechen, ohne Rücksicht auf Verluste. Die Kammer nimmt letzteres an.
Hauser abschließend: „Wir hoffen, dass dies Ihr letzter Kontakt mit der Justiz war. Wir wünschen Ihnen, dass Sie die lange Zeit nutzen.“ Er sei noch ein junger Mann, der noch viel Leben vor sich habe.