Sie wollte eigentlich nur wie jeden Morgen mit ihrem Hund Gassi gehen und erlebte dabei wie viele andere Radolfzeller und Überlinger eine der größten Anti-Mafia-Razzien der vergangenen Jahre im Bodenseeraum mit: „Weiß jemand, warum in der Teggingerstraße ein hohes Polizeiaufkommen ist und der Weg zum Mühlbach-Center mit einem Zivilfahrzeug versperrt ist?“, fragte eine junge Radolfzellerin verunsichert Mittwoch früh in einem Online-Forum. Kurz darauf schreibt sie in einem Post von „vollmaskierten Männern“, die ein italienisches Restaurant im Stadtzentrum von Radolfzell verließen.

500 Beamte im Einsatz

Es war gegen 7 Uhr früh, als am Mittwoch im Auftrag der Kriminalpolizei Friedrichshafen insgesamt 500 Polizeibeamte sowie Steuerfahnder in Überlingen, Radolfzell, Baden-Baden sowie weiteren deutschen Städten zahlreiche Wohnungen, Restaurants und Lebensmittelgeschäfte durchsuchten. „Wir haben uns gedacht, was ist denn da los? Es war wahnsinnig viel Polizei mit Schusswesten und zahlreichen Mannschaftswägen auf der Straße, die abgesperrt war“, sagten zwei Anwohner dem SÜDKURIER in Radolfzell.

Im Restaurant, das nach SÜDKURIER-Informationen betroffen sein soll, brannte am Donnerstag zwar Licht, anwesend war aber keiner. Auch telefonisch war niemand zu erreichen. Ein Blick durch das Fenster zeigte Spuren der polizeilichen Durchsuchung: Mehrere Schränke und Kommoden waren durchwühlt und der Inhalt am Boden zurückgelassen worden.

Spuren der Durchsuchung im Restaurant in Radolfzell, das nach SÜDKURIER-Informationen von der Razzia betroffen war.
Spuren der Durchsuchung im Restaurant in Radolfzell, das nach SÜDKURIER-Informationen von der Razzia betroffen war. | Bild: René Laglstorfer

In Überlingen dürfte das Polizeiaufgebot Mittwoch früh noch deutlich größer gewesen sein als in Radolfzell. Am Landungsplatz haben laut Augenzeugen etwa zehn Mannschaftswagen der Polizei geparkt, etwa 50 Beamte sollen die Wohn- und Geschäftsräume des Gebäudes am Seeufer durchsucht und den Landungsplatz abgesichert haben.

Nach Angaben des Überlinger Oberbürgermeisters Jan Zeitler in der Gemeinderatssitzung am Mittwoch soll das Gebäude „Fauler Pelz“, in dem sich ein italienisches Restaurant, eine städtische Kunstgalerie und Wohnungen befinden, von der Razzia betroffen gewesen sein. Ein Schaden sei in der Kunstgalerie nicht entstanden, so Zeitler.

Überlinger beobachten Festnahmen, Polizei bestätigt nicht

„Ich habe gemerkt, dass etwas nicht in Ordnung ist, als ich einen Polizisten mit Sturmhaube gesehen habe“, sagte eine Passantin dem SÜDKURIER-Reporter in Überlingen. Ein anderer Augenzeuge erzählt, dass die Polizei zwei Männer zumindest vorübergehend mitgenommen haben soll, was die Polizei jedoch nicht bestätigt.

Die „Operation Platinum“

Die länderübergreifende „Operation Platinum“, die zeitgleich unter anderem in Italien mit Unterstützung von Armee und Hubschrauber stattfand, richtete sich laut der italienischen Anti-Mafia-Ermittlungsbehörde DIA gegen die beiden kalabresischen ‚Ndrangheta-Clans Giorgi und Agresta.

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Sie sollen insbesondere im Piemont und am Bodensee krumme Geschäfte gemacht haben, darunter der Handel von mehreren 100 Kilogramm Kokain sowie Umsatzsteuerhinterziehung in großem Stil mithilfe von Lebensmittellieferungen. Die deutschen und italienischen Behörden konnten Bargeld, Konten, Autos sowie weitere Vermögenswerte wie Kunstwerke und Uhren im Gesamtwert von sechs Millionen Euro beschlagnahmen.

Webcam-Aufnahmen zeigen das Polizeiaufgebot am Überlinger Landungsplatz am Mittwochmorgen.
Webcam-Aufnahmen zeigen das Polizeiaufgebot am Überlinger Landungsplatz am Mittwochmorgen. | Bild: Jürgen Gundelsweiler

Ein Überlinger, der wie alle Augenzeugen anonym bleiben will, zeigte sich von der Anti-Mafia-Razzia in seiner Stadt nicht besonders überrascht: „Viele in Überlingen haben sich gewundert, wie das funktioniert, bei knapp 20.000 Euro Pacht pro Monat das ganze Jahr über offen zu haben, obwohl eher wenig los war“, sagt der Mann. Es fällt auf, dass in beiden von der Durchsuchung betroffenen Häusern in Radolfzell und Überlingen der selbe italienische Restaurant-Pächter namentlich angeführt wird.

Wie die Ermittler Erfolg hatten

Auf die Spur kamen die Behörden den mutmaßlichen Mafiosi, weil die Staatsanwaltschaft Turin deren Telefone abhören ließ, als diese sich im Jahr 2016 beim Oktoberfest in München trafen. Dabei stießen die Ermittler auf eine Zelle von Italiens mächtigster Mafia ‚Ndrangheta in der Gemeinde Volpiano in der Metropolregion Turin und auf Verbindungen zum Bodensee.

Aus diesem Grund wurde vor drei Jahren auch die Staatsanwaltschaft Konstanz eingeschaltet. Neben Europol und Eurojust unterstützten auch niederländische, belgische und französische Ermittler insbesondere bei der Entschlüsselung von Nachrichten der Online-Kryptodienste EncroChat und Sky ECC, die ein Teil der insgesamt 80 Beschuldigten verwendet hatten, um sich auszutauschen.