„Mit dieser Operation haben wir viel über ein Verbrechen gelernt, von dem viele nicht glauben, dass es in Deutschland existiert“, sagte der Leitende Oberstaatsanwalt Johannes-Georg Roth aus Konstanz am Mittwoch in fließendem Italienisch bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit der Staatsanwaltschaft Turin. „Heute ist ein schöner Tag für die Strafverfolgung und ein schlechter Tag für die dunkle Seite der Macht“, so Roth.
Wenige Stunden zuvor, in den frühen Morgenstunden, waren rund 800 Polizisten und Steuerfahnder aus Deutschland und Italien ausgeschwärmt, um in einer konzertierten Aktion mit dem Namen „Operation Platinum“ von Süditalien bis Norddeutschland 87 Wohn- und Geschäftsräume zu durchsuchen, die in Zusammenhang mit der kalabrischen Mafia `Ndrangheta stehen sollen.
Bodenseeregion als Schwerpunkt
In Deutschland wurden 46 Orte durchsucht, der Schwerpunkt der Razzien lag in der Bodenseeregion, und zwar im Landkreis Konstanz und im Bodenseekreis, wie Oliver Weißflog vom Polizeipräsidium Ravensburg dem SÜDKURIER bestätigte: „Wir haben umfangreiches Beweismaterial sichergestellt, das jetzt ausgewertet wird.“ Aus Polizeikreisen konnte der SÜDKURIER erfahren, dass es Mittwoch früh unter anderem in Überlingen und Radolfzell Durchsuchungen im Zuge der Großrazzia gegeben hat.
Die Ermittler beschlagnahmten zahlreiche Datenträger, Mobilfunkgeräte, Geschäftsunterlagen, Drogen, Bargeld und Wertgegenstände sowie Vermögenswerte in einer Größenordnung von insgesamt mindestens sechs Millionen Euro. „Das ist einer der größten Erfolge im Kampf gegen die internationale Kriminalität im Bodenseeraum. In der Region konnten größere Bargeldbeträge sowie weitere Vermögenswerte sichergestellt werden“, sagte Weißflog dem SÜDKURIER.
Die Tätergruppe soll ihren Hauptsitz in der italienischen Region Piemont rund um Turin sowie in Kalabrien haben. Ein Italiener, den die Beamten dem Führungskreis der Gruppe zurechnen, soll mit weiteren Beschuldigten im Bodenseeraum tätig gewesen und von hier aus den Drogenhandel und den Vertrieb der schwarz gehandelten Lebensmittel koordiniert haben. Der Mann konnte am Mittwoch in Italien festgenommen werden.
Weitere Schauplätze der Razzien waren Bayern, Nordrhein-Westfalen und Hessen sowie auf italienischer Seite die Regionen Piemont, Kalabrien und Sardinien.
Mehrere 100 Kilogramm Kokain gehandelt
Insgesamt führen die Behörden mehr als 80 Personen in beiden Ländern als Verdächtige, gegen 33 wurden Haftbefehle erlassen. Die Beschuldigten sollen mehrere 100 Kilogramm Kokain gehandelt sowie bandenmäßig Umsatzsteuer hinterzogen haben. Das Kokain wurde in großen Mengen aus den Niederlanden nach Italien transportiert und dort in den Handel gebracht. Dabei ergaben sich Hinweise auf direkte Kontakte zu kolumbianischen Drogenhändlern in den Niederlanden und Spanien, was die große Menge des gehandelten Kokains erklärt.
Ein weiteres „Geschäftsmodell“ der Gruppierung in Deutschland – so der Tatvorwurf – war die Geldwäsche – etwa im Handel mit Lebensmitteln und Autos – und Umsatzsteuerhinterziehung in großem Stil. Die Banden hätten zum Beispiel Essen aus Italien eingeführt und an italienische Restaurants und Lebensmittelhändler in ganz Deutschland direkt oder über Zwischenhändler geliefert. Doch Umsatzsteuern wurden nicht entrichtet und die illegalen Gewinne offenbar nach Italien transferiert. Welche Restaurants und Läden im Bodenseeraum konkret betroffen waren, wollte die Polizei auf Nachfrage nicht nennen.
Zum „Geschäftsmodell“ der Tätergruppierung gehörte es laut den Ermittlern auch, Druck auf die Restaurants und Lebensmittelhändler auszuüben, die Waren zu überteuerten Konditionen abzunehmen. Um sich auszutauschen, setzten die mutmaßlichen Täter konsequent auf verschlüsselte Kommunikation, die die Ermittler offenbar knacken konnte.
Ermittlungen gehen weiter
Gegen vier Hauptbeschuldigte ermittelt die Staatsanwaltschaft Turin außerdem wegen des Vorwurfs der Beteiligung an einer kriminellen Organisation nach Art der Mafia. „Die Ermittlungen sind mit dem heutigen Tag nicht abgeschlossen, die Kriminalpolizei arbeitet weiter“, sagte Weißflog dem SÜDKURIER.
In der Online-Pressekonferenz der Staatsanwaltschaft Turin am Mittwoch waren unter anderem auch die zum Polizeipräsidium Ravensburg gehörende Kripo Friedrichshafen, die Staatsanwaltschaft Konstanz sowie Italiens oberster Mafia-Jäger Federico Cafiero de Raho zugeschaltet. Die Behörden beider Länder lobten die Zusammenarbeit im Kampf gegen die ‚Ndrangheta als „beispielhaft“. Auch die europäischen Behörden Europol und Eurojust waren beteiligt.

„Das organisierte Verbrechen steigt und gefährdet die öffentliche Sicherheit. Sorgen bereitet uns, dass 80 Prozent des organisierten Verbrechens legale Geschäfte nutzt“, sagte Jari Liukku, Leiter der Abteilung „Schwere und Organisierte Kriminalität“ der europäischen Polizeibehörde Europol in Den Haag, bei der gemeinsamen Pressekonferenz der deutschen und italienischen Behörden in Turin. Beteiligt an den Großrazzien war auch die Steuerfahndung des Finanzamts Ulm.
Reaktionen auf die Polizeiaktion gab es auch aus Regierungskreisen: „Wir haben ‚Ndrangheta, Cosa Nostra und Konsorten fest im Blick“, sagte der baden-württembergische Innenminister Thomas Strobl (CDU). Italiens Innenministerin Luciana Lamorgese lobte den Großeinsatz als ein Signal, um das Unterwandern der legalen Wirtschaft zu stoppen.