Im Bildungsranking der Länder ist Baden-Württemberg nur noch Mittelmaß. Jedes fünfte Kind in der vierten Klasse im Land hat Schwierigkeiten mit dem Lesen sowie Probleme beim Zuhören und Verstehen. Und die Probleme beginnen schon viel früher. Im vergangenen Herbst gab das Kultusministerium bekannt, dass mehr als jede vierte Vorschulkind intensiven Förderbedarf im Bereich Sprache habe.
Nun will Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) die Konsequenzen daraus ziehen. Künftig sollen ihrer Vorstellung nach Kinder nur noch dann in die erste Klasse eingeschult werden, wenn sie ausreichend Sprachkenntnisse mitbringen.
Kinder sollen erstmals mit viereinhalb Jahren und dann erneut ein halbes Jahr vor der Einschulung auf ihren Sprachstand getestet werden. In der Kita soll Sprachförderung stattfinden. Wer danach nicht gut genug Deutsch kann, soll in eine sogenannte Junior-Klasse kommen, die der ersten Grundschulklasse vorgeschaltet ist.

Am Freitag beim Bildungsgipfel, zu dem Kretschmann die Fraktionschefs von Grünen, CDU, SPD und FDP geladen hat, dürften die Junior-Klassen ein Thema sein. Vorab hat der SÜDKURIER bei Lehrer- und Elternvertretern nachgefragt, was sie von den Ideen halten. Es gibt viel Zustimmung – aber auch Skepsis.
In der Realität fehlen schon jetzt die nötigen Kita-Plätze
„Grundsätzlich ist das genau die richtige Idee“, sagt Henning Zillessen, Rektor der Hans-Thoma-Grundschule in Tiengen und für den Verband Bildung und Erziehung (VBE) Südbaden im Bereich Schulleitung tätig, über die Vorschläge der Kultusministerin.
Aus eigener Erfahrung weiß er, dass bis zu 50 Prozent der Grundschüler in Waldshut-Tiengen Sprachprobleme hätten, darunter seien Flüchtlinge, aber auch osteuropäische Einwanderer und andere Migrantenfamilien. „Die Einschulungsgespräche finden oft mit Hilfe von Übersetzungsapps statt“, erzählt Zillessen dem SÜDKURIER.
Der Istzustand jedenfalls macht Sprachförderung nach Zillessens Einschätzung schwierig bis unmöglich. Dafür seien die Grundschulklassen viel zu groß. Der Klassenteiler liegt bei 28 Kindern und in Waldshut-Tiengen sei man da überall an der Grenze.
Der Gedanke, Kinder schon im Vorschulalter vor allem in sprachlicher Hinsicht fit zu machen für die Schule, sei also genau richtig. Die Umsetzung stellt sich der Schulleiter mit 20 Jahren Berufserfahrung allerdings schwierig vor. Vor allem, weil aktuell Kita-Plätze fehlen. „Wir bekommen seit dieser Woche die Anmeldungen für die erste Klasse. Ich erwarte, dass da von 60 Kindern zehn gar nicht im Kindergarten sind.“ Grund dafür sind die fehlenden Kita-Plätze. Gerade Flüchtlingskinder, die die Kita am nötigsten hätten, stünden häufig auf der Warteliste.
Auch beim Thema Junior-Klassen kann sich Zillessen schwer vorstellen, wie die Umsetzung klappen soll. Bislang bietet der Schulstandort Waldshut-Tiengen eine Grundschulförderklasse mit 20 Plätzen. In der bringe man bei weitem nicht alle Kinder unter, die Bedarf hätten. Er fragt sich, wo die zusätzlichen Klassen und Grundschullehrer herkommen sollen. Sein Fazit: „Die Idee ist gut, geht aber an der Realität an vielen Standorten vorbei.“
Wichtige Maßnahme, um aus dem Pisa-Tal herauskommen
Auch beim Landeselternbeirat kommt der Vorstoß der Kultusministerin gut an: „Es ist grundsätzlich eine gute Idee“, sagt Sebastian Kölsch, Vorsitzender des Landeselternbeirats. Denn mangelnde Sprachkenntnisse seine das Hauptproblem in Bezug auf den schulischen Erfolg. „Wenn ein Kind dem Unterricht nicht folgen kann, macht es eben zu.“
Unzureichende Deutschkenntnisse hätten damit negative Auswirkungen auf alle Bereiche, nicht nur im Fach Deutsch. Die Folgen davon würden sich dann durch die gesamte Schullaufbahn ziehen, was sich etwa in den schlechten Ergebnissen in der Pisa-Studie widerspiegle. Deshalb sei es auch richtig, bereits so früh und vor der Einschulung anzusetzen. „Es ist eine der wichtigsten Maßnahmen, um aus dem Pisa-Tal herauszukommen“, meint Kölsch.
Bei der Umsetzung gäbe es jedoch einige offene Fragen. Unter anderem beschäftigt den LEB-Vorsitzenden die rechtliche Dimension: Wie wird man Kindern mit Sprachförderungsbedarf habhaft, wenn die Eltern das nicht so sehen?
„Mir ist nicht 100 zu Prozent klar, wie verpflichtend die Umsetzung ist“, erklärt Kölsch. Nur wenn die Junior-Klassen nach Schulrecht umgesetzt würden, könnte man Kinder auch zur Teilnahme zwingen. Davon hänge der Erfolg aber ab. „Da fehlen mir derzeit die geplanten Details.“ Daneben sei auch die aktuelle Situation beim Fachkräftemangel ein großes Problem für die Realisierung der Vorhaben.
Nichtsdestotrotz blickt der Vorsitzende des Landeselternbeirats positiv auf die geplanten Maßnahmen: „Was Baden-Württemberg nicht nach vorn bringt, ist nichts zu tun. Deshalb ist jede Maßnahme, die in die Breite geht, speziell wenn sie bei den Grundkompetenzen ansetzt, erfolgversprechend.“
Für die Umsetzung ist mehr Geld und Personal notwendig
Auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Konstanz steht den Vorschlägen der Kultusministerin Schopper positiv gegenüber: „Die Idee ist keine neue und eine sinnvolle, Sprachförderung in der frühkindlichen Bildung fest zu verankern“, erklärt Hans-Georg Pannwitz, Kreisvorsitzender der GEW Konstanz und Lehrer an einer Gemeinschaftsschule. „In der frühkindlichen Bildung steckt der Schlüssel zum Erfolg.“

Es kämen Kinder mit mangelnden Sprachkenntnissen in die Schule, die bräuchten eine massive Förderung. Neben dem normalen Unterricht müssten sich Lehrkräfte zusätzlich darum kümmern, dass diese Kinder mitkommen. Zudem übernähmen sie auch noch Aufgaben außerhalb des Unterrichts, wie etwa Dolmetscher zu organisieren. „Wir haben im Grund viel zu wenig Ressourcen für die Fülle der Aufgaben“, sagt Pannwitz.
Darin sieht er auch die größte Schwierigkeit. Schon jetzt gäbe es einen gravierenden Lehrerinnenmangel in den Grundschulen und in den Kindergärten. Um das Vorhaben der Junior-Klassen umsetzen zu können, sei mehr Geld und Personal notwendig.
„Ich habe nur das Gefühl, es wird jetzt angekündigt, ohne zu wissen, woher die Ressourcen dafür kommen sollen“, erklärt Pannwitz. Für den Vorsitzenden der GEW Konstanz stell sich die Frage: „Ist das nur Blabla oder steckt dahinter auch ein echter Wille, Geld in die Hand zu nehmen?“ Davon hänge der Erfolg maßgeblich ab.