An seine ersten Wahlveranstaltungen kann sich Ozan Topcuogullari gut erinnern. Die Leute sahen ihn erwartungsvoll an, doch keiner konnte diesen türkischen Familiennamen richtig aussprechen. Das hatte seine Bewerbung so spektakulär gemacht, dass da einer auf dem Wahlzettel steht, der nicht Maier oder Müller heißt, sondern einen Namen aus dem Orient trägt. Der Kandidat, damals 35 Jahre alt, wusste um den exotischen Klang seines Namens. „Nach meiner Bewerbung war ich im Gespräch, viele wollten wissen, wie man das richtig ausspricht“, erinnert er sich.

Der Weg geht über die Vereine

Topcuogullari schmunzelt, wenn er an den Herbst 2016 denkt, damals, als Klettgau im Kreis Waldshut einen neuen Bürgermeister suchte. Bundespolitisch war die Flüchtlingskrise im Hintergrund. Acht Kandidaten wollten in das kleine Rathaus in Erzingen. Auch der parteilose Ingenieur mit türkischen Wurzeln warf seine Bewerbung ein – und holte gleich im ersten Wahlgang die meisten Stimmen, um im zweiten Wahlgang dann als Sieger über die Ziellinie zu gehen.

Das Wappentier von Erzingen: ein wilder Eber.
Das Wappentier von Erzingen: ein wilder Eber. | Bild: Fricker, Ulrich

Wie er das macht? „Ich war damals fast unbekannt“, gibt er zu, „aber jeder kannte jemanden, der mich kennt.“ Sein Name lässt erahnen, dass er keiner der Dynastien angehört, die ein Dorf seit Jahrhunderten prägen. Der Schlüssel für seinen Erfolg liegt in Eigenschaften, die „Integration“ erst zum Leuchten bringen. Topcuogullari bringt sich ein. Er war vor seiner Wahl in wichtigen Vereinen. Die Latte seiner ehrenamtlichen Tätigkeiten ist beeindruckend: Fußballverein, Feuerwehr, dort später als Gruppenführer eingesetzt, Rotes Kreuz.

Reicht diese Erklärung aus? Warum gibt es so wenige vergleichbare andere Fälle im Land? Die akademische Forschung macht um das sehr seltene Phänomen von Bürgermeistern mit Migrationshintergrund bisher einen Bogen. „Dazu gibt es bisher keine empirische Forschung“, räumt der Politologe Wolfgang Seibel (Konstanz) ein.

Zivieldienst beim Roten Kreuz

Seinen Zivildienst leistete Topcuogullari beim Roten Kreuz ab. Für ihn keine Frage: Als deutscher Staatsbürger kommt er seiner Dienstpflicht nach, aber nicht bei der Bundeswehr. „Ich wollte etwas Sinnvolles tun. Deswegen habe ich den Dienst an der Waffe verweigert“, sagt er.

Ozan Topcuogullari wurde 2016 zum Bürgermeister der Gemeinde Klettgau gewählt – er ist der einzige Bürgermeister in Südbaden mit ...
Ozan Topcuogullari wurde 2016 zum Bürgermeister der Gemeinde Klettgau gewählt – er ist der einzige Bürgermeister in Südbaden mit türkischen Wurzeln. | Bild: Fricker, Ulrich

Wer mehr über den Mann mit den wachen Augen erfahren will, wird bei seinen Eltern fündig. Sein Vater hatte das türkische Abitur in der Tasche, als er vor knapp 50 Jahren nach Deutschland einwanderte. Mehmet Topcuogullari wollte nicht Zementsäcke auf einer Baustelle schleppen, sondern Ingenieur werden. „Er wollte studieren und er hat studiert“, sagt der Sohn über seinen Vater.

In der Türkei lernte der Vater bereits Deutsch

Da schwingt Anerkennung mit. Ein Vorbild. Auch der Sohn wird viele Jahre später an derselben Konstanzer Fachhochschule den Dipl. Ing FH erwerben, Fachrichtung Maschinenbau. Das Vorbild des Vaters steht gewaltig im Raum.

Das Rathaus von Erzingen, ein zweites steht in Grießern.
Das Rathaus von Erzingen, ein zweites steht in Grießern. | Bild: Fricker, Ulrich

Und noch ein Detail: Sein Vater Mehmet belegte bereits in der Türkei erste Deutschkurse. Ohne die Grundkenntnis der Sprache wollte er nicht in die Bundesrepublik reisen und sprachlos vor einer Fabrik stehen.

Ein Ingenieur sucht technische Lösungen

Wir sitzen im Rathaus in Erzingen, dem Mittelpunktort. Mit sechs weiteren Ortsteilen bildet er die Gemeinde Klettgau, etwa 7600 Menschen leben hier. Herr Topcuogullari verschwindet in der Arbeit. Akten, Zettel, PC. Kaum persönliche Utensilien, nur eine rote Kaffeetasse mit der Notrufnummer 112, die an den Feuerwehrmann erinnert. Und ein Fußball.

Der Schreibtisch ist wenig aufregend. Nur Akten? Akten sind das papiergewordene Gedächtnis. Einer kennt die Fakten, hat sich in die Details seiner Kommunalpolitik hineingeworfen. Ein Technokrat im guten und ursprünglichen Sinn des Wortes. Als Ingenieur sucht er technische Lösungen. Ein Problem lässt sich nicht durch ideologische Scharmützel lösen.

Aktenarbeit auf dem Bürgermeister-Schreibtisch.
Aktenarbeit auf dem Bürgermeister-Schreibtisch. | Bild: Fricker, Ulrich

Mit einem pfiffigen Wahlprogramm fing es an

Wie ernst er es meint, wurde bei der Bewerbung deutlich. Er verteilte keinen der handelsüblichen Flyer mit Schlagworten. Vielmehr schrieb er ein 16 Seiten starkes Dossier, das die heiklen Punkte auflistet. Das halbfertige Stadion oder eine gefährliche Kreuzung. Das Dossier liest sich wie ein kleines Regierungsprogramm. Da bewarb sich einer, der genau weiß, wo der Schuh drückt, der es nicht bei allgemeinen Redensarten belassen wollte. Das hob ihn von auswärtigen Bewerbern ab, die sich auch anderswo bewerben können. Sein Joker hieß Heimat.

Topcuogullari ist ein heimisches Gewächs. Geboren in Konstanz, zogen seine Eltern Mehmet und Ruziye später in den Klettgau. In dem beschaulichen Ort zwischen Waldshut und Schaffhausen fanden sie Arbeit. Die Gegend wurde der Familie zur Heimat. Wenn es ihn in die Politik zog, dann nur hier. Für andere Kommunen bewarb er sich nicht. Er sagt: „Ich wollte nur in Klettgau Bürgermeister werden. Hier war ich schon im Kindergarten und in Vereinen. Ich kenne das Leben hier.“

Was heißt schon Provinz?

Das Leben hier verläuft gemächlich, aber nicht so gemächlich, wie manche meinen. Schnell sieht man, dass viel gebaut wird. Der Preis von 165 Euro pro Quadratmeter Bauland ist bereits überholt.

Gemeinsam spazieren wir durch Erzingen. Kinder kennen und grüßen den Bürgermeister. Dieser weist auf einen Acker und sagt: Das wird unser neues Baugebiet.

Erzingen ist der größte Ortsteil von Klettgau.
Erzingen ist der größte Ortsteil von Klettgau. | Bild: Fricker, Ulrich

Der Klettgau steht ein wenig im Schatten von Schwarzwald, Hegau, Bodensee. Vielleicht zu Unrecht. Die Dörfer hier sind umgeben von Feldern und Weinbergen, Schaffhausen liegt vor der Tür. „Ich fühle mich hier verbunden“, sagt der Schultes. Nur sogenannte Städter tun einen Winkel wie den Klettgau schnell als Provinz ab.

Die CSU wollte keinen Muslim als Bürgermeister?

Stimmt das? Provinz geht anders, wie ein Beispiel in Bayern zeigt. In Wallerstein, einer Marktgemeinde im Regierungsbezirk Schwaben, hatte Anfang 2020 ein Unternehmer mit türkischen Wurzeln für das Amt des Bürgermeisters kandidiert. Sein Lebenslauf glänzte: Sener Sahin, massiv integriert, Kinder, Vereine. Für den CSU-Vorstand von Wallerstein war Sahin der Wunschkandidat. Doch hatte der Vorstand die Rechnung ohne seine älteren Parteimitglieder gemacht: Diese revoltierten – einen Muslim als Bürgermeister, das wollte man dann doch nicht. Sahin zog zurück. Man sei eben noch nicht soweit, bedauern die Fortschrittlichen im CSU-Ortsverein. Fazit: Wallerstein ist Provinz, Klettgau nicht.

Auch an Fasnacht dabei: Auf einem Xylophon spielte Topcuogullari bei einem Bunten Abend.
Auch an Fasnacht dabei: Auf einem Xylophon spielte Topcuogullari bei einem Bunten Abend. | Bild: Rolf Sprenger

Die multikulturelle Karte hat Topcuogullari nie gezückt, sie interessiert ihn schlicht nicht. Der 40-Jährige respektiert alle Religionen. Zu den katholischen Schwestern und den Pfarrern im Dorf pflegt er gute Kontakte. Er selbst bezeichnet sich als säkular. „Ich bin absolut nicht religiös. Das verdanke ich meinen Eltern.“ Und er isst gerne Wurstsalat.

Die Schule fürs Leben

Mit Glaubensfragen hat seine Arbeit wenig zu tun. Anderes treibt ihn mehr um. Zum Beispiel der Anbau an die Realschule, der in seiner Amtszeit begonnen wurde. Da fährt Feuer in den sonst ruhig sprechenden Mann. „Schulen sind unheimlich wichtig für die Attraktivität einer Gemeinde“, weiß er.

Ein Schelmenstück: Diese Laufbahn in Erzingen hört auf halber Strecke auf. Der Bürgermeister hat diesen Zustand vorgefunden. Er will die ...
Ein Schelmenstück: Diese Laufbahn in Erzingen hört auf halber Strecke auf. Der Bürgermeister hat diesen Zustand vorgefunden. Er will die Sportanlage eines Tages zu Ende bauen. | Bild: Fricker, Ulrich

Als er vor gut vier Jahren sein Amt antrat, betrieb die Gemeinde auch eine Gemeinschaftsschule – vor einigen Jahren noch Inbegriff einer fortschrittlichen Pädagogik. Der Vorstoß war gut gemeint, wurde im Klettgau aber kaum angenommen. Pro Jahr tröpfelten gerade einmal sieben bis acht Anmeldungen. Also befragte Topcuogullari die Eltern. Er stellte fest, dass sich die meisten eine Realschule vor Ort wünschen. Er nahm den Ball auf, kontaktierte das Kultusministerium und erlebte eine sachkundige Ministerin Susanne Eisenmann. Die Schule wurde genehmigt. Für das kommende Schuljahr nahm die Schulsekretärin bereits 40 Anmeldungen entgegen.

Ein Neubau statt alten Containern

Stolz führt der Bürgermeister seine Besucher zur Baustelle. Hier Altbau, dort Neubau. Hinter der alten Schule stehen zwei in die Jahre gekommenen Container. Seit vielen Jahren schon werden sie als Klassenzimmer benutzt, manche Kinder kennen es gar nicht anders. Das lieblose Provisorium hat sich längst festgesetzt. „Das ist doch nicht attraktiv“, sagt Topcuogullari und schüttelt den Kopf. Auch deshalb baut er, damit die Schüler in adrette Klassenzimmer kommen.