Die Aufregung ist groß: „Unglaublich, was aus unserem Gesundheitssystem geworden ist“, schreibt Uwe Geiss. Seine Frau sei akut, aber nicht lebensbedrohlich erkrankt. Über die Telefonnummer des ärztlichen Notfall- und Bereitschaftsdienstes 116 117 versucht das Ehepaar verzweifelt medizinische Hilfe zu erhalten. Nach mehreren Anrufen mit mindestens 45 Minuten Wartezeit fliegt es laut eigenen Angaben aus der Leitung, nach zwei Stunden in der Warteschleife.

Dass es sich dabei um keinen Einzelfall handelt, zeigen zahlreiche ähnliche Schilderungen von betroffenen Patientinnen und Patienten, die dem SÜDKURIER vorliegen. Von über 600 Personen haben 94 Prozent der Notfalldienst-Hotline 116 117 die schlechteste Note „Ungenügend“ auf dem Online-Bewertungsportal „Trustpilot“ gegeben.

„Bei Herzinfarkt wäre er verstorben“

Auch die drei Konstanzer Ärzte Bettina Bathelt, Markus Fix und Günther Kiesel berichten dem SÜDKURIER unabhängig voneinander von groben Missständen: „Nahezu jeder Patient von mir hängt stundenlang in der Warteschleife von 116 117, auch Pflegekräfte in Altersheimen, die eigentlich etwas anderes zu tun hätten, haben über Stunden den Hörer zwischen Schulter und Kopf eingeklemmt“, sagt die erfahrene Medizinerin Bathelt.

Bettina Bathelt, hausärztliche Internistin aus Konstanz
Bettina Bathelt, hausärztliche Internistin aus Konstanz | Bild: Bettina Bathelt

Ihr Kollege Markus Fix erzählt von einer 96-jährigen Patientin seiner Praxis in Konstanz, die in seiner Urlaubszeit versucht hat, den Notdienst 116 117 zu erreichen und nach 40 Minuten aufgegeben hat. „In einem Notdienst im Januar bin ich zu einem Patienten mit erheblicher kardialer Vorgeschichte gerufen worden, der 30 Minuten brauchte, um bei der 116 117 durchzukommen. Hätte er einen Herzinfarkt gehabt, wäre er möglicherweise durch diese Verzögerung verstorben“, sagt der niedergelassene Allgemeinmediziner.

Und laut Günther Kiesel, seit 42 Jahren Hausarzt in Konstanz-Dettingen, haben sich zuletzt – ähnlich wie auch Fix und Bathelt angeben – die Einsätze im Notfalldienst deutlich verringert, weil viele Anrufer bei 116 117 nicht mehr durchkommen würden. „Ich habe gemerkt, dass ich offensichtlich seltener angefordert werde. Es kann nicht Sinn der Sache sein, wenn nur etwa die Hälfte der Patienten an die Vermittlerstelle durchkommt“, sagt Kiesel.

Günther Kiesel, Allgemeinmediziner aus Konstanz-Dettingen
Günther Kiesel, Allgemeinmediziner aus Konstanz-Dettingen | Bild: Nikolaj Schutzbach

24 von 30 Leitstellen bereits umgestellt

Auslöser für die ungewöhnliche Häufung an Beschwerden ist eine weitreichende Systemumstellung beim Notfalldienst. Im Oktober 2021 hat die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) damit begonnen, den regionalen Leitstellen des Deutschen Roten Kreuzes (DRK), die auch lebensbedrohliche Notrufe unter 112 koordinieren, Landkreis für Landkreis die Zuständigkeit für 116 117 zu entziehen und an drei zentralisierte Callcenter zu vergeben.

Eine Frau telefoniert in einer Telefonzentrale für den ärztlichen Notfalldienst 116 117 in Hamburg.
Eine Frau telefoniert in einer Telefonzentrale für den ärztlichen Notfalldienst 116 117 in Hamburg. | Bild: DPA/Daniel Reinhardt

Betrieben werden die neuen Callcenter von einer Tochtergesellschaft der KVBW in Mannheim und Bruchsal mit insgesamt 100 Mitarbeitern sowie von dem privaten Unternehmen VitaServices in Chemnitz. Laut Martina Troescher, Sprecherin der KVBW, sind bereits 24 regionale Leitstellen im Südwesten vom Notfalldienst entbunden. Die sechs verbleibenden Leitstellen in Villingen-Schwenningen, Rottweil, Tuttlingen, Heilbronn, Esslingen und Bruchsal sollen bis 30. Juni „sukzessive abgelöst“ werden.

Mannheim statt Radolfzell

Vor der Zentralisierung von 116 117 sind Anrufer aus dem Landkreis Konstanz bei der DRK-Leitstelle in Radolfzell rausgekommen. Jetzt nehmen Mitarbeiter in Mannheim, Bruchsal und Chemnitz die Anrufe entgegen. Damit sei auch die örtliche Kompetenz völlig verloren gegangen, kritisiert Markus Fix.

Ein Blick in die DRK-Leitstelle in Radolfzell. Das Foto entstand im Jahr 2016.
Ein Blick in die DRK-Leitstelle in Radolfzell. Das Foto entstand im Jahr 2016. | Bild: Oliver Hanser

Demnach hätten Callcenter-Mitarbeiter aus dem Norden Baden-Württembergs Patienten statt zu einem Facharzt ins nahe Singen nach Friedrichshafen und Ärzte im Notfalldienst in Gebiete geschickt, für die sie nicht zuständig seien. „Die Callcenter-Mitarbeiter kennen sich hier in der Gegend natürlich überhaupt nicht aus und können auch gar keine örtliche Ahnung haben“, sagt Fix.

Wozu das führen kann, zeigt ein Einsatz nach einem tödlichem Bahnunfall im Schwarzwald am 17. Februar, den ein Rettungssanitäter schildert: Die Kriminalpolizei habe ihn gebeten, eine abschließende Leichenschau durch einen Mediziner zu organisieren, damit sie den Leichnam von den Schienen holen und der Bahnmanager die vielbefahrene Strecke zwischen Freiburg und Basel wieder freigeben kann. Also habe er den ärztlichen Notfalldienst unter 116 117 gerufen.

Leichnam ohne Daten

Nach zehn Minuten in der Warteschlange habe eine Callcenter-Mitarbeiterin alle Personendaten des tödlich Verunglückten abgefragt. „Diese konnte ich natürlich nicht beantworten, da der Leichnam keine Daten dabei hatte. Das stellte die Dame im Callcenter vor erstaunlich große Probleme, da sie ohne Namen und weitere Daten wohl nicht weiterarbeiten kann“, so der Rettungssanitäter.

Der ärztliche Nofall- oder Bereitschaftsdienst 116 117 ist rund um die Uhr erreichbar.
Der ärztliche Nofall- oder Bereitschaftsdienst 116 117 ist rund um die Uhr erreichbar. | Bild: DPA/Patrick Pleul

Das nächste Problem sei der genaue Einsatzort gewesen. Auch mit einer Erklärung samt Bahnkilometer und Feldwegen habe die Mitarbeiterin wenig anfangen können. Mehrere Bitten, direkt mit dem Arzt zu sprechen, der Notfalldienst hatte, seien „aus Datenschutzgründen“ eher unfreundlich abgewürgt worden.

„Schneller kommt der Arzt dann auch nicht“

Der Rettungssanitäter berichtet, er habe daraufhingewiesen, dass Einsatzkräfte der Feuerwehr, des Rettungsdienstes, der Polizei, Kripo und Kriminaltechnik sowie die Passagiere in den Zügen und Bahnhöfen zwischen Freiburg und Basel nur auf den einen ärztlichen Kollegen warten. Daraufhin habe die Hotline-Mitarbeitern nur gefragt, was sie jetzt mit dieser Aussage anfangen solle, schneller komme der Arzt dann auch nicht.

„Das ist richtig schlecht gelaufen“, räumt Johannes Fechner, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der KVBW in Stuttgart, ein, als ihn der SÜDKURIER mit dem Vorfall konfrontiert. Er weist darauf hin, dass die Mitarbeiterin nicht im KV-eigenen Callcenter saß, sondern beim Subunternehmen in Chemnitz, welches Spitzen abdecken soll. Die Daten des Arztes dürfe die Mitarbeiterin einfach nicht rausgeben, aber sie hätte Polizei oder Feuerwehr informieren sollen – „menschliches Versagen“, sagt Fechner.

Johannes Fechner, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW)
Johannes Fechner, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) | Bild: KVBW

„Schlechtere Versorgung für Patienten“

Ähnliche Vorfälle hat jedoch auch die Konstanzer Ärztin Bettina Bathelt erlebt, die im Notfalldienst regelmäßig zu tödlichen Bahnunfällen gerufen wird. „Leichenschauen finden jetzt bis zu einem Tag später statt, weil Anrufer bei 116 117 nicht durchkommen – das ist unglaublich“, sagt die Medizinerin.

Zwar würden die Mitarbeiter im Callcenter sehr nett und bemüht sein, aber es gebe einen tiefgreifenden Strukturfehler. „Deregionalisierungen führen immer zu einer schlechteren Versorgung für die Patienten, das ist wirklich eklatant“, sagt Bathelt. Ihr Arztkollege Markus Fix spricht von einer „grausamen Verschlechterung des Systems“, die schwere gesundheitliche Schäden verursachen könne.

Altes System „kam Patienten zugute“

Die langen Wartezeiten bei 116 117 würden dazu führen, dass Patienten aufgeben und gar keine medizinische Hilfe erhalten oder den für lebensbedrohliche Situationen reservierten Notruf 112 rufen. „Dann wird ein Rettungswagen hingeschickt und hinterher werden wir vom ärztlichen Notfalldienst gerufen. Es werden wirklich unnötige Einsätze kreiert“, sagt Fix.

Markus Fix, Allgemeinmediziner in Konstanz
Markus Fix, Allgemeinmediziner in Konstanz | Bild: Ulrike Sommer

Das bestätigt auch Uwe Rudolf, Leiter der DRK-Leitstelle für den Landkreis Konstanz in Radolfzell. Er berichtet allein im Februar von 92 Anrufen unter 112, die falsch waren und an 116 117 weiterverwiesen werden mussten. „Es gibt Schichten, da ist jeder zweite Anruf eigentlich für den ärztlichen Notrufdienst“, sagt Rudolf.

Selbst Rettungssanitäter müssten nun – trotz einer eigenen Spezialnummer – bis zu 15 Minuten warten, bis im 116 117-Callcenter jemand abnehme. „Unterm Strich war die Nähe und die Zusammenarbeit mit den Ärzten viel besser, was auch den Patienten zugute kam“, so der Chef der DRK-Leitstelle im Landkreis Konstanz.

Gesetzesänderung schuld an Misere?

Johannes Fechner, Vizeboss der KVBW, will im SÜDKURIER-Gespräch die langen Wartezeiten bei 116 117 nicht beschönigen. „Wir sind schon besser geworden, aber ich bin noch nicht zufrieden. Wir möchten alle Anrufer um Geduld bitten – wir sind in einer Pandemie“, sagt der Allgemeinmediziner aus Emmendingen.

Freiwillige Mitarbeiter des ärztlichen Notfalldienstes in Nürtingen
Freiwillige Mitarbeiter des ärztlichen Notfalldienstes in Nürtingen | Bild: Malteser

Als Grund für die Systemumstellung nennt Fechner das bereits 2015 beschlossene bundesweite Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG), das vorgebe, eine bundesweit einheitliche Rufnummer 24 Stunden täglich und sieben Tage die Woche für akute Patientenprobleme erreichbar zu halten. Als die KVBW die Systemumstellung 2019 beschlossen habe, sei sie von den damaligen Anruferzahlen ausgegangen. „Durch Corona sind wir abgesoffen, wir haben – wie Notaufnahmen und Arztpraxen – Land unter gehabt“, erklärt der KVBW-Vorstand.

Zehn Kündigungen in Radolfzell

Hinzu komme Personalmangel. Der Arbeitsmarkt für medizinisches Fachpersonal, das bei beiden Rufnummern zwingend zum Einsatz kommen muss, sei leergefegt, so Fechner. Diese Begründung ärgert den Konstanzer Mediziner Markus Fix. Bereits im Juli 2021 hätten sich langjährige Mitarbeiterinnen der DRK-Leitstelle in Radolfzell, darunter eine Frau mit 50 Jahren Diensterfahrung, von ihm verabschiedet, weil sie im Zuge der Systemumstellung gekündigt worden seien.

Uwe Rudolf, Chef der Leitstelle, bestätigt dem SÜDKURIER zehn Kündigungen von geringfügig beschäftigen Mitarbeitern, die zuvor den ärztlichen Notfalldienst 116 117 im Landkreis Konstanz koordinierten.

Massive Kritik auch von Notärzten

Dabei hat der Gesetzgeber, das Gesundheitsministerium in Berlin, in Zusammenhang mit 116 117 sogar festgehalten, dass „gut funktionierende regionale Konzepte nicht aufgegeben werden müssen“. Doch laut KVBW-Vizechef Fechner hätten die regionalen Rettungsleitstellen die Vorgaben auf Dauer nicht leisten können.

Rettungssanitäter der DRK-Leitstelle in Radolfzell. Das Foto entstand im Jahr 2016.
Rettungssanitäter der DRK-Leitstelle in Radolfzell. Das Foto entstand im Jahr 2016. | Bild: Oliver Hanser

Harsche Kritik am KVBW kommt auch von der Arbeitsgemeinschaft Südwestdeutscher Notärzte (agswn). Sie beobachtet mit großer Sorge die „inakzeptablen Wartezeiten“ und „massiven Erreichbarkeitsprobleme“ nach der „unglücklichen und scharfen Abtrennung“ des Notfalldienstes 116 117 von der Notfallrettung 112. Die agswn fordert: „Egal bei welchem medizinischen Notfall – es muss eine qualifizierte Entgegennahme des Anrufs (...) aus einer Hand erfolgen.“

Angesprochen auf diese Forderung, erklärt KVBW-Vizechef Fechner, dass coronabedingt seit zwei Jahren ein entsprechender Gesetzesentwurf in der Schublade liege. Darin sei geregelt, dass eine Schnittstelle zwischen dem Notruf 112 und dem ärztlichen Notfalldienst 116 117 geschaffen werde. „Das wird jedoch noch zwei bis drei Jahre dauern, vielleicht sind wir in Baden-Württemberg auch schneller“, sagt der stellvertretende KVBW-Vorstandsvorsitzende. Voraussetzung dafür sei, dass die 30 regionalen Rettungsleitstellen im Südwesten eine einheitliche Softwarelösung erhielten.