Immer wieder kommt es zu dreisten Betrügereien per Telefon und Internet, auf die gerade auch ältere Menschen hereinfallen. Bereitwillig zahlen sie hohe Geldbeträge an Kriminelle – und Außenstehende fragen sich: Wie kann das nur passieren? Ein Aufsehen erregender Prozess am Landgericht Konstanz gegen zwei Brüder zeigt nun, wie geschickt die Täter sich das Vertrauen des Opfers erschleichen und damit spielen.
Der Prozess nimmt manch unerwartete Wendung: Zuerst sagte der per Haftbefehl gesuchte Sohn des Angeklagten Michael A., der 24-jährige Marcello K., gegen seinen Vater und Onkel aus – der SÜDKURIER berichtete über die besonderen Umstände der Aussage.
Dann kam es am Montag erneut zu einem Paukenschlag im Konstanzer Schwurgerichtssaal: Der 44-jährige Angeklagte Christian A. erhob sich am fünften Verhandlungstag plötzlich von seinem Platz und widerrief sein umfassendes Geständnis – sein 42 Jahre alter Bruder Michael A. tat es ihm später gleich, wie Christoph Reichert, Präsident des Konstanzer Landgerichts, dem SÜDKURIER bestätigte.
Außerdem soll Christian A. laut Informationen des SÜDKURER einen Komplizen, dessen Namen die Behörden bisher nicht kannten, als wahren Drahtzieher des schweren Betrugs genannt haben, vermutlich um das eigene Strafmaß zu reduzieren.

Dieser Komplize soll alte Kundenadressen von einem echten früheren Teppichhändler gekauft haben, was erklären würde, weshalb der geschädigte Konstanzer Ex-Geschäftsmann Eberhard Wieser (Name von der Redaktion geändert) so rasch Vertrauen zum alten Bekannten Hassan fasste. „So einen Prozess wie diesen erlebt man nur einmal unter Tausend“, sagte einer der beiden Düsseldorfer Anwälte von Christian A., Joachim Müller.
Schönen Wandteppich geschenkt
In der Folge soll es die mutmaßliche Bande aus Nordrhein-Westfalen geschickt verstanden haben, sich das Vertrauen des vermögenden Rentners Eberhard Wieser zu erschleichen.
Alles dürfte laut Zeugenaussagen und SÜDKURIER-Informationen Mitte Juni 2017 begonnen haben, als das angeklagte Brüderpaar Michael und Christian A. sowie der von ihnen nun benannte Unbekannte abwechselnd beim betagten Konstanzer Ex-Geschäftsmann Eberhard Wieser angerufen und sich bei ihm als von früher bekannter türkischer Teppichhändler namens „Hassan“ vorstellt haben soll, wie diese auch gestanden hatten.

Er habe ein Anliegen und denke, er sei bei dem Rentner an der richtigen Adresse, weil er gerade einen Platz suche, um hochwertige Teppiche zwischenzulagern, wie Wieser bereits 2018 zu Protokoll gab. Als kleines Dankeschön würde Wiesers Frau, die damals schwer krank war, einen schönen Wandteppich geschenkt bekommen.
Zoll gebe Container nicht frei
Daraufhin bot der hilfsbereite Senior seine Garage als Lagerplatz an. Weil es jedoch Probleme mit der Freigabe eines mit teuren Teppichen gefüllten Frachtcontainers beim Zoll gebe und sie in Not seien, wie die Betrüger am Telefon vortäuschten, sollen sie Wieser auch gleich noch um ein Darlehen in Höhe von 20.000 Euro angefleht haben. Das geliehene Geld sollte ihm noch am selben Tag zurückgezahlt und er für sein Vertrauen fürstlich belohnt werden.

Am 27. Juni 2017 tauchte schließlich der nun am Singener Bahnhof verhaftete Sohn von Michael A. bei Wieser auf und gab sich als Sohn des Teppichhändlers Hassan aus, wie dieser am Freitag vor Gericht gestand. Der 24-Jährige nahm das „Darlehen“ über 20.000 Euro entgegen und ließ minderwertige Teppiche, eingehüllt in Plastikfolie, wie angekündigt, zum Zwischenlagern da.
Darlehensvertrag aufgesetzt
Noch am selben Tag der Abholung sollen die Angeklagten alias „Hassan“ erneut bei Wieser angerufen und eine neuerliche Notlage vorgetäuscht haben: Der Zoll gebe den Frachtcontainer, in dem sich Teppiche im Wert von mehreren Millionen Euro sowie Bargeld befinden würden, nur gegen eine Zahlung über 60.000 bis 80.000 Euro Euro frei, behaupteten sie. Deshalb sollen sie Wieser um ein weiteres Bardarlehen in Höhe von 40.000 Euro ersucht und angekündigt haben, er werde bei der Rückzahlung reich belohnt werden.

Kurz darauf besuchte der angebliche Sohn Hassans, Marcello K., der von seinem Vater Michael A. angeleitet worden sein soll, erneut Wieser. Sie setzten einen Darlehensvertrag auf und unterzeichneten ihn. Der gutmütige Senior übergab 40.000 Euro an den 24-Jährigen.
Sicherheitspfand über eine halbe Million US-Dollar
Bereits am nächsten Tag, dem 28. Juni 2017 rief „Hassan“ erneut mehrmals bei Wieser an. Nun sollen die Angeklagten erzählt haben, dass ihr Vater im Krankenhaus liege und notoperiert werden müsse. Dafür würden Kosten in Höhe von 100.000 Euro anfallen. Um den Ex-Geschäftsmann nicht misstrauisch zu stimmen, sollen sie einen mit einer halben Million US-Dollar gefüllten Geldkoffer als vermeintliches Sicherheitspfand in Aussicht gestellt haben.
In Wirklichkeit befanden sich in dem Koffer jedoch nur zehn 100-Dollar-Scheine als oberste Deckschicht, die Marcello K. Wieser kurz vorzeigte und dann den Koffer wieder rasch verschloss. Unter den Dollar-Noten lagen lediglich mit Papierschnipseln gefüllte Plastiktüten.
Spiel- und Drogensucht
Mit einem Teil der erbeuteten 160.000 Euro dürften sich die Angeklagten Michael und Christian A. wochenlang ihrer Spiel- und Drogensucht hingegeben haben, wie beide vor dem Landgericht Konstanz bekannten. „Kokain, Spielen, Casinos – ich hatte keine Kontrolle mehr über mich. Egal wie, ich musste jeden Tag konsumieren“, sagte Christian A. aus, der vor kurzem das erste Mal Vater geworden ist.
Weil er kein Geld hatte, sei er Betrügen gegangen, um seine Spiel- und Drogensucht zu finanzieren. „Ich möchte mich von tiefstem Herzen bei den Leuten entschuldigen, weiß aber, dass ich mit einer Entschuldigung nicht davon komme“, sagte der 44-Jährige, der bei seiner Aussage vor Gericht kurz in Tränen ausbrach.
Zwangsverheiratung mit 16
Auch sein um zwei Jahre jüngerer Bruder Michael A. erzählt von den gleichen Beweggründen für den schweren Betrug. „Ich wollte Geld beschaffen für meine Spiel- und Drogensucht und damit aufhören, aber es hat nicht geklappt. Ich bin sogar bundesweit gesperrt worden und dann nach Holland gefahren zum Spielen“, sagt der fünffache Vater.

Die Brüder sind in Krefeld geboren und in einer Roma-Familie aufgewachsen. Bereits ihr Vater war „lebenslanger Alkoholiker“ und im „Knast“. Als sie 16 Jahren alt waren, mussten sie nach Roma-Recht heiraten. „Mein Opa hatte festgelegt, dass ich meine Cousine heirate. Ich wollte das nicht, nach sieben, acht Jahren gingen wir auseinander“, erzählt Christian A.
Herr Hauptmann vom LKA
Einige Wochen, nachdem die mutmaßliche Bande innerhalb von nur 24 Stunden 160.000 Euro erbeutet hatten, nahm ein angeblicher „Herr Hauptmann“ des Landeskriminalamts Stuttgart Kontakt mit dem Konstanzer Betrugsopfer Eberhard Wieser auf – dahinter soll jedoch das bis vor kurzem unbekannte Bandenmitglied gesteckt haben.
In einer Reihe von Telefonaten soll der gesuchte Mann vorgegaukelt haben, dass die Polizei den falschen Teppichhändlern bereits auf den Fersen sei. Um ihnen eine Falle zu stellen, solle Wieser weiteres Geld übergeben, sofern sich einer der Täter wieder bei ihm melde.
Wenig später riefen die Angeklagten Christian und Michael A. abwechselnd als „Hassan“ bei Wieser an und gaben an, Geld für die Reha des notoperierten Vaters zu benötigen, nachdem die OP gut verlaufen sei.
Goldbarren, Taschentücher und Schweizer Franken
Zwischen 20. und 30. Juli 2017 – wann genau ist nicht bekannt – traf Wieser erneut Marcello K. und übergab ihm Krügerrand-Goldmünzen im Wert von 80.000 Euro sowie Bargeld in Höhe von 68.430 Euro. Als Pfand hinterlegte der 24-Jährige diesmal eine Tasche – angeblich gefüllt mit Schweizer Franken. In Wirklichkeit war wieder nur die oberste Schicht echt mit diesmal lediglich vier 100 Franken-Noten, darunter waren Taschentücher aus Papier. Marcello K. zeigte Wieser den Inhalt kurz verschloss die Tasche rasch wieder.
Nachdem die mutmaßliche Bande den betagten Eberhard Wieser um 308.430 Euro geprellt hatte, nahm sie nach einigen Wochen des Geldausgebens um den 20. August 2017 erneut mit ihm Kontakt auf. In zahlreichen Telefonaten über mehrere Tage hinweg vereinbarten sie, am Abend des 24. August 190.000 Euro Bargeld sowie acht jeweils ein halbes Kilo schwere Goldbarren im Wert von etwa 140.000 Euro zu übergeben. Als vermeintliche Sicherheit sollten diesmal 930.000 Schweizer Franken bei Wieser hinterlegt werden.
Kriminalpolizei hörte Telefone ab
Dazu fuhren Michael A. und die erstmals involvierte Virgina B. – sowie in einem zweiten Auto weitere bisher unbekannte Täter – am Nachmittag nach Konstanz, wo sie in der Nähe von Wiesers Wohnung in der Innenstadt abwarteten. Über Stunden hinweg ging es bei den abgehörten Gesprächen darum, wer die 330.000 Euro bei dem Rentner abholen sollte, ob nicht noch mehr herauszupressen sei, wer welchen Anteil von der Beute erhalten sollte, welche Strafe bei einer Festnahme zu erwarten sei und welche Ausrede der Polizei dann präsentiert werden könnte.

Zwischendurch soll Michael A. das Betrugsopfer Wieser angerufen und sich als Polizeibeamter „Schmid“ von der Kripo Konstanz ausgegeben haben – offenbar um herauszufinden, ob inzwischen die echte Polizei eingeschalten sei.
Nach weiteren Telefongesprächen zwischen den angeklagten Brüdern Michael und Christian A. ging schließlich die 29-jährige Virgina B. gegen 19 Uhr zur Wohnung des bereits vier Mal Betrogenen. Dabei war eine Telefonverbindung zum Handy von Michael A. aktiv, der sie dirigierte. Doch vor der Wohnungstür empfingen Polizisten der Kripo Friedrichshafen die Frau und nahmen sie fest – Wieser hatte zwischenzeitlich die echte Polizei eingeschalten.
Zweieinhalb Jahre Haft für Gehilfin
Virgina B. wurde bereits im April 2018 vom Amtsgericht Konstanz zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. „Das war einfach eine Schweinerei“, sagte die Richterin Heike Willenberg damals zu der Frau. Die Namen der Drahtzieher nannte B. damals nicht. Es sollte mehr als zwei Jahre dauern, bis die Polizei die mutmaßlichen Bandenköpfe Michael und Christian A. Anfang Dezember 2020 festnehmen konnte.
Das Urteil für die beiden Angeklagten war ursprünglich für Dienstag vorgesehen. Der teilweise Widerruf der Geständnisse führt nun dazu, dass die Beweisaufnahme fortgesetzt werden muss und sich der Prozess und die Urteilsverkündung voraussichtlich verzögern werden.
Bis zu zehn Jahre Haft
Am Freitag ließ Richter Marc Gerster von der Polizei abgehörte Telefongespräche der mutmaßlichen Bande vorspielen. Dabei haben die beiden Angeklagten Michael und Christian A. sowie der Zeuge Marcello K. eindeutig die Stimme eines Komplizen identifiziert, der nun per Haftbefehl gesucht wird. „Damit nimmt der Prozess erneut eine Wende“, sagte Verteidiger Tomislav Duzel.
Am 31. August wird ein Gutachter angehört, der sich der Frage widmete, ob die beiden Angeklagten in eine Entziehungsanstalt kommen und inwiefern bei ihnen eine verminderte Steuerungsfähigkeit aufgrund der Spiel- und Drogensucht vorlag. Für den 1. September wird mit dem Urteil gerechnet. Michael und Christian A. drohen jeweils bis zu zehn Jahre Haft. Für alle Beteiligten gilt die Unschuldsvermutung.