Auf den ersten Blick scheint es, ein Kind in Fußfesseln werde in den Schwurgerichtssaal des Landgerichts Konstanz geführt – so zierlich und kleingewachsen ist die Angeklagte Lorena J. Kaum vorstellbar, welche groben Verbrechen dieses zarte Geschöpf, das mit gesenktem Kopf das Gesicht hinter einer Hand verbirgt, begangen und welche Demütigungen und Erniedrigungen die 22-Jährige erlitten haben soll.

Nach ihr begleiten die Justizwachebeamten den 23-jährigen David P. und den 31-jährigen mutmaßlichen Kopf der Zuhälterbande, Eugen B., in den Saal. Als der ganz in schwarz gekleidete, bullige Mann die Kameras erblickt, zieht er blitzschnell die Kapuze seiner Jacke über den Kopf – trotzdem sticht sofort sein Gesichtstattoo ins Auge.

Eugen B. soll als mutmaßlicher Chef der Zuhälterbande die Fäden gezogen und die durch Zwangsprostitution verdienten Gelder an sich ...
Eugen B. soll als mutmaßlicher Chef der Zuhälterbande die Fäden gezogen und die durch Zwangsprostitution verdienten Gelder an sich genommen haben. | Bild: Hanser, Oliver

Angeklagte lebten in Stockach

Die Anspannung ist spürbar, es könnte der aufsehenerregendste Prozess des Jahres für das Amtsgericht Konstanz werden, welches aus Platz- und Sicherheitsgründen ins größere Landgericht ausgewichen ist. Acht Justizwachebeamte, deutlich mehr als sonst, lassen die Angeklagten nicht aus den Augen. Immerhin wirft die Staatsanwaltschaft Konstanz dem Trio Menschenhandel, Freiheitsberaubung, Zwangsprostitution, Betrug und Drogenhandel in Aach, Singen, Stockach sowie weiteren Orten vor.

In diesen drei Gebäuden in Aach, Singen und Stockach soll eine mutmaßliche Zuhälter-Bande Wohnungen gemietet und Frauen zur Prostitution ...
In diesen drei Gebäuden in Aach, Singen und Stockach soll eine mutmaßliche Zuhälter-Bande Wohnungen gemietet und Frauen zur Prostitution genötigt haben. | Bild: René Laglstorfer/DPA/SK-Grafik

Alle drei geben gleich zu Beginn an, zuletzt in Stockach gelebt zu haben. Bei Lorena J. und Eugen B. ist das insofern überraschend, denn laut den umfangreichen Ermittlungen wohnte das Paar bis zur Verhaftung am 6. August 2021 zusammen in Albstadt – da wie dort jedoch seit Jahren nicht behördlich gemeldet.

Das geheimnisvolle Fax

Gleich zu Beginn ergreift der Biberacher Wahlverteidiger von Eugen B., Achim Ziegler, das Wort. Er bedankt sich bei der Vorsitzenden Richterin Friederike Güttich für das Fax von heute Morgen. „Der Inhalt ist bedeutungsvoll“, sagt er kryptisch.

Er habe aber noch keine Zeit gehabt, das Fax, das vorher in die Muttersprache der drei Angeklagten, Rumänisch, übersetzt werden müsse, mit seinem Mandanten zu besprechen, und beantragt daher eine Unterbrechung. Richterin Güttich lehnt das ab, schließlich könne auch später noch unterbrochen werden.

Die Vorsitzende Richterin Friederike Güttich (Mitte), links und rechts von ihr die beiden Schöffen und am rechten Bildrand Staatsanwalt ...
Die Vorsitzende Richterin Friederike Güttich (Mitte), links und rechts von ihr die beiden Schöffen und am rechten Bildrand Staatsanwalt Kulikow. | Bild: Hanser, Oliver

Ziegler hakt nach, ob die Sitzordnung – die drei Angeklagten sitzen im Saal so weit wie möglich voneinander entfernt – bereits ein Vorgriff auf den Antrag im Fax auf räumliche Trennung von Lorena J. und Eugen B. sei. „Ich habe dem Antrag nicht entsprochen“, sagt die Vorsitzende.

Mit 18 als Prostituierte angefangen

Der Wahlverteidiger der 22-Jährigen, Constantin Sperneac-Wolfer aus der Nähe von Baden-Baden, erklärt, dass es ausreiche, wenn zwischen den Ex-Lebenspartnern kein Blickkontakt mehr bestehe. Später wird bekannt, dass sich Lorena J. allein durch den Anblick von Eugen B. unter Druck sowie in Panik versetzt fühle und seinen Namen nicht mehr aussprechen könne.

Laut einem Bericht der Gerichtshilfe, welche Lorena J. im Gefängnis interviewte, hat die Angeklagte früher auf Turnieren, darunter auch in Deutschland, erfolgreich getanzt und mit 18 Jahren begonnen, sich zu prostituieren. „Vorbild“ sei eine Nachbarin gewesen, die mit dem Anschaffen immer viel Geld verdient hatte – das habe Lorena J. fasziniert.

Systematische Prostitution

Im selben Jahr lernt sie Eugen B. in Rumänien kennen. Er soll sich als Zuhälter angeboten und ihr vorgeschlagen haben, gemeinsam nach Deutschland zu gehen, wie Verteidiger Sperneac-Wolfer aus dem geheimnisvollen Fax vorliest – das sich als Erklärung der 22-Jährigen entpuppt, in der sie die ihr vorgeworfenen Taten, darunter auch Drogenkonsum, einräumt, jedoch ihren Ex massiv belastet.

Er soll der mutmaßliche Bandenchef und für Zwangsprostitution und Menschenhandel in Aach, Singen und Stockach verantwortlich sein: Eugen B.
Er soll der mutmaßliche Bandenchef und für Zwangsprostitution und Menschenhandel in Aach, Singen und Stockach verantwortlich sein: Eugen B. | Bild: SK/Privat

Demnach sei zu Beginn von systematischer Prostitution in Deutschland nicht die Rede gewesen, sondern sich umzuschauen und auch eine normale Arbeit anzunehmen, wenn sie sich anböte. „Im Glauben, dass die Prostitution eine gelegentliche und bloß vorübergehende Situation sein wird, willigte meine Mandantin ein“, sagt Sperneac-Wolfer.

Geburt des Sohns ein Schock

2019 kommt in Überlingen der gemeinsame Sohn des Paares mit einer schweren Behinderung zur Welt. „Das war ein Schock für sie. Die Kosten für seine Behandlung stiegen ins Unermessliche“, so ihr Anwalt.

Nach relativer kurzer Zeit soll es Eugen B. gelungen sein, Lorena J. zur Prostitution als einzige Haupttätigkeit zu überreden – laut ihrer Erklärung unter Vorspiegelung der wirtschaftlichen Notwendigkeit für die Familie und einer angeblichen Liebe verbunden mit Gewaltdrohungen gegen sie und ihre Familie, sogar gegen das gemeinsame Kind, das zur Mutter des 31-Jährigen nach Rumänien gegeben wurde.

„Weil meine Mandantin keine Alternative sah, ließ sie sich auf die systematische Prostitution – sogar in den eigenen Räumlichkeiten – ein“, so Sperneac-Wolfer. Dabei habe Eugen B. sie nicht aus den Augen gelassen und selbst bei der Ausübung der Prostitution noch aus geringer Entfernung das Geschehen beobachtet. Er soll ihr gesagt haben, dass sie bloß seine Sklavin wäre und alles zu erfüllen habe, was er befiehlt, darunter auch Analverkehr, was sie gar nicht wollte und worunter sie psychisch litt.

Suche nach Berufsprostituierten

Doch Freier sollen zunächst nur gelegentlich vorbeigeschaut haben, weshalb der mutmaßliche Bandenchef laut der Erklärung seiner Ex nach einer Professionalisierung und den Aufbau einer Webseite durch sie verlangt habe, um zahlungskräftige, deutsche Kundschaft anzulocken. Mit der Zeit sei die Nachfrage gestiegen, weshalb Eugen B. sich in Rumänien nach Berufsprostituierten umgeschaut hätte.

Lorena J. wird in Fußfesseln in den Konstanzer Gerichtssaal geführt. Sie muss sich unter anderem wegen Beihilfe zur Zwangsprostitution, ...
Lorena J. wird in Fußfesseln in den Konstanzer Gerichtssaal geführt. Sie muss sich unter anderem wegen Beihilfe zur Zwangsprostitution, Betrug in sieben Fällen und Drogenmissbrauch verantworten. | Bild: Hanser, Oliver

Diese seien dort wegen der guten Verdienstmöglichkeiten in Deutschland nicht schwer zu finden gewesen, von den Vereinbarungen will Lorena J. jedoch nichts bekommen haben – auch nicht, ob die Türen zu den angemieteten Wohnungen in Aach, Singen und Stockach abgeschlossen waren, damit die „Mädchen“ nicht fliehen konnten, oder ob die Frauen überwacht wurden, wie dies der Konstanzer Staatsanwalt Kulikow in seiner Anklage skizzierte.

Lorena B. schließt nicht aus, dass Eugen B. weitere „Mädchen“ nach Deutschland brachte und sie parallel als Zuhälter betreute.

„Verhöhnt als Zuhälterin“

Zu den ihr vorgeworfenen Betrugstaten – sie soll mehreren Freiern mit Vorwänden Darlehen in Höhe von insgesamt 10.000 Euro herausgelockt haben – gibt sie an, dass ihr damaliger Lebensgefährte sie dazu verpflichtet habe und sie das gesamte Geld wie auch aus ihrer Prostitution an ihn abführen musste. Doch je mehr sie verdient habe, desto weniger Geld habe Eugen B. gehabt. „Möglicherweise war er nicht nur sex- und drogensüchtig, sondern auch geldsüchtig und verspielte das Geld in einem der Casinos in der Gegend“, verliest Verteidiger Sperneac-Wolfer.

Eugen B. soll als mutmaßlicher Chef der Zuhälterbande die Fäden gezogen und die durch Zwangsprostitution verdienten Gelder an sich ...
Eugen B. soll als mutmaßlicher Chef der Zuhälterbande die Fäden gezogen und die durch Zwangsprostitution verdienten Gelder an sich genommen haben. | Bild: Hanser, Oliver

Als er fortfährt, dass seine Mandantin von Eugen B. mehrmals mit dem Tode bedroht worden sei, will dieser im Gerichtssaal vor Wut aufspringen. Sein Anwalt Ziegler legt ihm die Hand auf die Schulter, damit er sitzen bleibt. Lorena B. wolle sich nicht auf Kosten anderer aus der Affäre ziehen, möchte aber auch nicht vom Angeklagten verhöhnt werden, wie dieser das getan haben soll, als er bei einer früheren Stellungnahme vor Gericht die zierliche 22-Jährige als Zuhälterin bezeichnet haben soll.

Eugen B. will sich vorerst nicht äußern. Der Prozess wird am Freitag fortgesetzt. Für alle Genannten gilt die Unschuldsvermutung.