Wo sich bereits gefährliche Jugendbanden, fanatische Islamisten sowie Terroristen der Roten Armee Fraktion (RAF) für ihre Verbrechen verantworten mussten, hat am Montag die juristische Aufarbeitung der Singener Messerattacke gestartet: im Hochsicherheitsbereich des Justiz- und Strafvollzugskomplexes Stuttgart-Stammheim.

Der brutale Angriff am 14. Dezember 2020 am Friedrich-Ebert-Platz in der Singener Südstadt war der gewalttätige Höhepunkt einer jahrelangen Fehde zwischen zwei verfeindeten syrischen Großfamilien, die nach Angaben des Landgerichts Konstanz auch untereinander verwandt und verschwägert sind. Acht Mitglieder von Familie A. im Alter von 20 bis 40 Jahren sollen drei Landsmänner der anderen Familie A. mit Messern, einem Schlagstock, Kreuzsteckschlüssel zum Reifenwechseln sowie mit Faustschlägen und Fußtritten traktiert und zum Teil lebensgefährlich verletzt haben.

Dabei sollen die acht mutmaßlichen Angreifer den Tod des 42-jährigen Hauptopfers billigend in Kauf genommen haben, wie Ulrich Gerlach, Oberstaatsanwalt aus Konstanz, im Hochsicherheitstrakt Stuttgart-Stammheim dem SÜDKURIER schildert. „Die sind mit Messern auf ihn losgegangen, haben ihn übel zugerichtet und ihm eine Beinvene durchtrennt. Das Opfer hat richtig reagiert und die Vene noch selber abgeklemmt, sonst hätte das wesentlich schlimmer ausgehen können“, sagt Gerlach.
13 Verteidiger und 25 Verwandte
Bereits eine Stunde vor Prozessbeginn bringt sich am Parkplatz vor dem aus Sicherheits- und Platzgründen fern vom Bodensee gewählten Prozessort in Stuttgart-Stammheim ein großes Polizeiaufgebot in Stellung. Sechs Mannschaftswagen sollen mit zahlreichen Einsatzkräften einen reibungslosen Ablauf gewährleisten. Nach und nach treffen die 13 Verteidiger sowie etwa 25 Verwandte der acht Angeklagten ein.

Auch im Inneren sind die Sicherheitsmaßnahmen enorm. Dicke Glaswände trennen die Angeklagten von ihren Verteidigern, den anwesenden Besuchern und Journalisten sowie vom Hauptopfer, das mit seinem Rechtsbeistand als Nebenkläger im Saal ist. Auch das Medieninteresse ist riesig. Das Fernsehen und Radio, die Deutsche Presse-Agentur, Fotografen sowie auch eine deutsche Boulevard- und eine Schweizer Zeitung sind vor Ort.
Sieben verschiedene Haftanstalten
Doch dessen Beginn verzögert sich zunächst erheblich. Erst nach knapp einer Stunde führen Justizwachebeamte aus sieben verschiedenen Haftanstalten in ganz Baden-Württemberg die acht Angeklagten in Handschellen in den Hochsicherheitssaal. Diese verbergen ihre Gesichter teilweise hinter Akten, Kappen, Plastiktüten und Sakkos.

„Wir haben sie über ganz viele Justizanstalten verteilt, weil wir natürlich nicht möchten, dass sie sich absprechen und mit vorbereiteten Statements in die Verhandlung kommen“, sagt Oberstaatsanwalt Gerlach. Er sitzt als Ankläger fast einsam einer Heerschar von 13 Verteidigern aus Konstanz, Singen, Radolfzell sowie Villingen-Schwenningen gegenüber, darunter ist auch der bekannte Konstanzer Jurist und frühere Theaterintendant Christoph Nix.
Mit vier Frauen 48 Kinder gezeugt
Gegen 10 Uhr eröffnet der Vorsitzende Richter Joachim Dospil aus Konstanz die Verhandlung. Zu den erhobenen Vorwürfen schweigen die mutmaßlichen Täter, die untereinander Brüder, Halbbrüder beziehungsweise Cousins sind. Zunächst nur drei wollen zumindest zu ihrer Person Angaben machen. Sie schildern, wie sie einige Zeit nach dem Kriegsausbruch in Syrien im Jahr 2011 über die Türkei, Griechenland und Österreich nach Deutschland gekommen waren. Hier hätten sie Arbeit gesucht und ein normales Leben führen wollen, sagen die Männer aus.

Ein Angeklagter, der 34-jährige Samir A., gibt Einblicke in das Ausmaß der Großfamilie: Sein inzwischen verstorbener Vater habe vier Frauen gehabt und mit ihnen zusammen 25 Söhne sowie 23 Töchter, berichtet er. Seine Geschwister seien heute in Deutschland, in Syrien und der Türkei wohnhaft. Zwei Brüder sollen im Krieg umgekommen sein, einen weiteren Bruder habe die syrische Regierung 2012 ins Gefängnis gesteckt, seither gelte er als verschollen. „Wir wissen nichts von ihm“, sagt Samir A.
„Nicht jeder, der aus dem Krieg kommt, neigt zu Gewalt“
Nach einer Verhandlungspause, während der den acht mutmaßlichen Tätern wieder Handschellen angelegt werden, erklären sich zwei weitere Angeklagte bereit, Angaben zu ihrem bisherigen Leben zu machen, die sich mit jenem ihrer Verwandten ähneln. „Das ist sicher kein Fehler. Wir können nur das berücksichtigen, was wir wissen“, sagt Richter Dospil. Bei den restlichen drei eisern schweigenden Angeklagten werden Erkenntnisse der Polizei- und Jugendbehörden verlesen. Alle acht Tatverdächtigen haben neben ihrer engen Verwandtschaft gemeinsam, dass sie wegen des Bürgerkriegs in ihrer Heimat nach Deutschland geflüchtet waren.

Verteidiger Christoph Nix verliest gegen Ende einen von seinem Mandanten Samir A. selbst verfassten Brief über dessen Leben, um zu zeigen, wie liebevoll der Familienvater vor der mutmaßlichen Tat gelebt habe. „Nicht jeder, der aus dem Krieg kommt, neigt zu Gewalt“, betont Nix.
Ermittlungen auch wegen IS-Hintergrund
Wegen versuchten Totschlags und gefährlicher Körperverletzung könnte gegen die acht Angeklagten bei einer Verurteilung eine Freiheitsstrafe von „nicht unter fünf Jahren“ verhängt werden, wie es das Gesetz vorsieht. Ein Urteil wird für Mitte Oktober erwartet. Gegen einen der acht Angeklagten und ein weiteres Familienmitglied wird auch wegen Mitgliedschaft beziehungsweise Unterstützung des Islamischen Staats (IS) ermittelt.