Er liegt lebensgefährlich verletzt auf einem Krankenbett, sein Gesicht ist gezeichnet von zahlreichen langen Schnittverletzungen, sein dichter Bart und seine schwarzen Haare sind blutüberströmt. Jene kurz nach der Tat aufgenommenen Fotos vom Hauptopfer der Singener Messerattacke Mizr A., die an diesem Vormittag am Hochsicherheitsgericht in Stuttgart-Stammheim gezeigt werden, sind schockierend.
Die Rottweiler Kripokomissarin Lena Haag zeigt aus ihrem 77-seitigen Spurensicherungsbericht auch Fotos von „Blutantragungen“ – wie es im Polizeisprech heißt – vom Tatort Friedrich-Ebert-Platz in der Singener Südstadt, auf sichergestellten Kleidungsstücken mehrerer Angeklagter und aus dem Inneren des attackierten VW-Busses: Im ganzen Fahrzeug sind unzählige Glassplitter von eingeschlagenen Fensterscheiben verteilt und der Fahrersitz ist von Blut richtiggehend durchtränkt.
36.000 Euro Schmerzensgeld
Deutliche Worte für den Angriff der acht angeklagten Mitglieder einer syrischen Großfamilie auf drei Opfer wählt der Konstanzer Oberstaatsanwalt Ulrich Gerlach zu Beginn seines Schlussplädoyers: „In den 30 Jahren, seit ich Staatsanwalt bin, habe ich eine solche Tat noch nicht erlebt. Dass in Singen ein Fahrzeug überfallen und auf die Insassen eingestochen und eingeschlagen wird – das bleibt ohne Beispiel.“
Beide syrischen Großfamilien auf der Täter- und Opferseite müssten sich an ihre Nasen fassen und die Angelegenheit ruhen lassen. „Hut ab für die Verteidiger, dass sie die Schadenswiedergutmachung hinbekommen haben, damit endlich wieder Friede herrscht“, sagt Staatsanwalt Gerlach. 36.000 Schmerzensgeld konnten für die drei zum Teil schwer verletzten Opfer fixiert werden, davon gehen 24.000 Euro an das Hauptopfer Mizr A. und je 6000 Euro an seinen schwer verletzen Cousin und dessen Sohn. Um die Summe aufzubringen, liehen sich die meisten Angeklagten Geld von ihren Verwandten.
Nebenkläger fährt schwere Geschütze auf
Kurz zuvor war am Parkplatz vor dem Stammheimer Gericht zu beobachten, wie Familienmitglieder der Angeklagten Geldscheine bei den wieder zahlreich anwesenden Vertretern der Täterseite einsammelten und abzählten – jeder, der konnte, leistete einen Beitrag. Am Ende wechselten 30.000 Euro in bar an diesem Tag den Besitzer. Die Verteidiger überreichten die Kuverts einzeln an den Opfervertreter Wilfried Gaiser aus Baiersbronn im Schwarzwald, der eine Zeit lang mit dem Nachzählen beschäftigt war. Der Rest soll innerhalb von neun Tagen beglichen werden.

Nebenkläger Gaiser war es auch, der in seinem Schlussplädoyer die schwersten Geschütze auffuhr. Jener lebensgefährliche Messerschnitt am Oberschenkel des Hauptopfers sei kein Zufall gewesen. „Jeder Berufssoldat weiß, wo man die Rosenvene erwischt. Der Schnitt wurde tangential geführt, das ist militärische Ausbildung“, sagte der Opfervertreter. Ein Anfänger würde mit dem Messer auf den Knochen stoßen, die Täter hätten genau gewusst, dass man nach dem so genannten Rosenschnitt schnell verbluten würde. „Spätestens mit dem Rosenschnitt war der Spaß einer entwürdigenden Bestrafung vorbei. Ein bisschen später wäre er (das Hauptopfer Mizr A., Anm.) tot gewesen.“
Der gefährlichste Angriff sei am Hals
Der Singener Verteidiger Bernd Rudolph widerspricht in seinem Schlussplädoyer später dem Opfervertreter: „Der gefährlichste Angriff ist nicht der Rosenschnitt, sondern hier am Hals“, sagt Rudolph und zeigt auf seinen Kehlkopf. „Im Gegensatz zum Nebenkläger bin ich kein militärischer Fachmann – obwohl ich gedient habe.“ Ihm sei bei der Bundeswehr gezeigt worden, wie man Wunden versorge und verbinde, aber nicht wie man sie zufüge.

Gaiser wandte sich auch direkt an die zahlreich im Gerichtssaal anwesenden Verwandten der acht Angeklagten: „Ihre Ehemänner, Brüder und Väter gehen für eine relativ lange Zeit ins Gefängnis. Ob sich das gelohnt hat, können Sie selber bewerten.“ Er schloss sich beim Strafmaß an Oberstaatsanwalt Gerlach an.
„Natürlich vollkommener Quatsch“
Dieser hatte für den 34-jährigen Haupttäter Samir A., der auch im Gerangel um das Tatmesser die Vene am Oberschenkel erwischt hat, vier Jahr und neun Monate Haft gefordert. „Das Teilgeständnis von Samir A. enthält das Wesentliche nicht. Was er geschrieben hat im Chat, hat er alles unter den Tisch fallen lassen. Es ist natürlich vollkommener Quatsch, dass er zu einem leeren Fahrzeug hingekommen ist. Das sind weitgehende Schutzbehauptungen“, sagt Gerlach. Er geht nicht von einem nachweisbaren, aber bedingten Tötungsvorsatz aus, wenn man sich ansehe, was in der Chatgruppe „Plus Plus“ mit 25 Teilnehmern zur mutmaßlichen Planung der Tat geschrieben wurde und welche Äußerungen mit Töten und Schlachten bei dem Angriff gefallen seien.
Für den zweiten Haupttäter Ahmad A. (24) der ebenfalls ein Messer benutzt haben dürfte, beantragte die Staatsanwaltschaft vier Jahre und drei Monate – ebenso für Jehad E., der nachweislich der Administrator der Chatgruppe war, ein Radkreuz und einen Schlagstock bei dem Angriff verwendete und wüste Morddrohungen von sich gegeben haben soll.
Jugendstrafrecht kommt zur Anwendung
Vier weitere Angeklagte sollen zwischen drei Jahre und drei Monate sowie vier Jahre Haft erhalten. Am glimpflichsten würde Zacharia A. davon kommen, der mit seinen 20 Jahren zur Tatzeit wohl noch unter das Jugendstrafrecht fällt. Für ihn beantragte Oberstaatsanwalt Gerlach zwei Jahre und sechs Monate Freiheitsstrafe – und für alle acht Angeklagten, die Haftbefehle aufrecht zu erhalten, also von einer Bewährungsstrafe abzusehen. „Es geht auch um Generalprävention. Jedem, der mit so einer Denke von Ehre und Familie hierher kommt, muss von der deutschen Gesellschaft klar gemacht werden, dass das nicht geht und streng bestraft wird“, so Gerlach.
In den ersten Plädoyers verlangten einige Verteidiger, die individuelle Schuld an der Tat stärker zu berücksichtigen, weil Familien nichts rechtsfähig seien. „Was in Singen passiert ist, ist respektlos – auch gegenüber einer Stadt, in der 101 Nationen zusammenwohnen“, sagte Gerhard Zahner aus Konstanz. Dennoch beantragte er für seinen Mandanten Zacharia A., der wie alle anderen rund zehn Monate Untersuchungshaft hinter sich hat, die Freilassung. „Damit er eine Ausbildung machen kann und er ein Mitglied der Gesellschaft wird in seiner Stadt, den man brauchen kann“, plädiert Zahner.
„Nicht drei Jahre wegsperren“
Ebenso um eine Bewährungsstrafe für seinen 23-jährigen Mandanten Mohammad A., und zwar von einem Jahr und acht Monaten, bat der Singener Anwalt Peter Messmer: „Er hat nicht so viel gemacht, dass man ihn drei Jahre und drei Monate wegsperren müsste – das ist überzogen.“ Sein Mandant habe nur einen Tritt begangen, außerdem habe er Aufklärungshilfe geleistet, weil er als einziger unmittelbar nach der Tat der Polizei den Angriff schilderte und auch alle Namen nannte.

Auch für die Verteidiger Irene Rau aus Singen und Nicolas Doubleday aus Konstanz ist das vom Staatsanwalt beantragte Strafmaß von vier Jahren und drei Monaten für ihren Mandanten Jehad E. (39) zu hoch. „Es war kein geplanter Tatablauf, sondern ein spontanes Geschehen. Das sieht man schon daran, dass die Tat an einer sehr befahrenen Stelle in Singen mitten am Tag ausgeführt wurde“, sagte Rau.
Neun weitere Verteidigerplädoyers folgen am Mittwoch. Je nachdem, wie lange sie dauern, könnte noch am selben Tag ein Urteil fallen.