Am 5. September 1945 macht sich Werner Bischof auf zu einer Reise ins Ungewisse. Nach sechs Jahren verlässt der Zürcher Fotograf zum ersten Mal wieder die Schweiz und durchquert auf dem Fahrrad den vom Krieg versehrten Südwesten Deutschlands.
Dabei kommt er auch in Friedrichshafen vorbei, deren Altstadt bei Luftangriffen 1944 fast komplett zerstört wurde. Bischof fotografiert Menschen inmitten von Ruinen, darunter zwei Mädchen, die fröhlich über den Fliesenboden der ausgebrannten katholischen Kirche St. Nikolaus hüpfen.
Das Foto war eines von 35 Bildern des 1954 im Alter von 38 Jahren verstorbenen Werner Bischofs, die im Herbst 2019 in der Leica Galerie in Konstanz gezeigt wurde. Es erregte die Aufmerksamkeit der SÜDKURIER-Lokalredaktion Friedrichshafen, die einen Aufruf startete, um die beiden Mädchen zu finden. Scheinbar ohne Erfolg, niemand meldete sich.
Dann ein erster Hoffnungsschimmer: Der Sohn des Fotografen erzählt am Telefon von einem kleinen vergilbten Tagebuch, in dem Werner Bischof seine Eindrücke während der Reise durch Süddeutschland 1945 festgehalten hat.
Die Suche nach den beiden Mädchen auf Werner Bischofs Foto führt im Oktober 2019 also erstmal ins Atelier seines Sohnes Marco Bischof nach Zürich, von wo aus der Dokumentarfilmer den Nachlass seines Vaters verwaltet. Dessen Tagebuch wird nach Hinweisen zu dem Bild in der Friedrichshafener Nikolauskirche durchforstet. Aber Werner Bischof erwähnt die beiden spielenden Mädchen mit keinem Wort. Wer sie waren, bleibt unklar.
Eine Frau erkennt sich wieder
Dann im Sommer 2022, drei Jahre nachdem die Suche nach den beiden Fotografierten begonnen hatte, landet ein E-Mail im Postfach der SÜDKURIER-Lokalredaktion Friedrichshafen, in der Getrud Freymuth-Thiel aus Weilheim im Landkreis Waldshut schreibt, sie habe alte Zeitungen durchgeblättert und sei dabei auf das Foto von Werner Bischof gestoßen – und habe sich und ihre zwei Jahre ältere Schwester darauf als Kinder wiedererkannt. Auch zeitlich würde alles zusammenpassen, da sie Anfang September 1945 mit einem Teil ihrer Geschwister auf einer kleinen Reise in Friedrichshafen vorbeigekommen sei.
Es folgen erste Telefonate mit Gertrud Freymuth-Thiel und schließlich ein Treffen mit ihr und zwei ihrer älteren Schwestern in Wurmlingen bei Tuttlingen, wo eine der beiden wohnt. Beide waren sie damals auch auf der Reise, von der Freymuth-Thiel erzählt hatte dabei. Später kommt dann auch ein Telefonat mit Herta Eberhard zustande, der Schwester, die mit Freymuth-Thiel während des Spielens in der Friedrichshafener Nikolauskirche von Werner Bischof fotografiert worden sein soll.
Bierkeller als Schutzraum
In den Gesprächen mit den Geschwistern Thiel taucht man tief ein in die Vergangenheit der Kriegs- und Nachkriegszeit in Süddeutschland. Die Schwestern erzählen von ihrer Kindheit und Jugend in Laupheim, den Nächten mit Fliegeralarm und in einem zum Luftschutzbunker umfunktionierten Bierkeller, den Bomben, die auf das benachbarte Ulm fielen, der Mischung aus Schrecken und Faszination, mit der sie als Kinder und Jugendliche diese Zeit erlebt haben.
Und schließlich vom Kriegsende, in dessen Anschluss sich ein Teil der insgesamt zwölf Geschwister auf die Reise nach Friedrichshafen, Konstanz und schließlich Singen wagte, um dort eine Schwester des Vaters zu besuchen.
Eine 15-Jährige leitet die Reise
Die Reiseleitung übernahm die damals 15-jährige Charlotte, die mit drei ihrer Schwestern, der elfjährigen Christa, der achtjährigen Herta und der sechsjährigen Gertrud, sowie einem der Brüder, dem zehnjährigen Karl, Anfang September 1945 in Laupheim aufbrach – zu einer „kleinen Weltreise“, wie sich drei der Schwestern, Charlotte Weißer und Christa Thiel sowie Gertrud Freymuth-Thiel mehr als 70 Jahre später beim Treffen in Wurmlingen erinnern. Oder, wie Herta Eberhard am Telefon sagt: „Es war ein großes Abenteuer. Eine völlig andere Welt, weil wir so behütet waren in Laupheim.“

Mit dem Zug ging es von Laupheim aus nach Friedrichshafen und dort zu Fuß vom Bahnhof an den Hafen, vorbei an Ruinen und der ausgebrannten St. Nikolaus-Kirche. Daran, dass zwei der Schwestern, Gertrud und Herta dabei fotografiert wurden, können sich die Geschwister nicht erinnern.
Aber nicht nur sind sich alle einig, dass die beiden Fotografierten den Mädchen Gertrud und Herta aufs Haar gleichen. Die ganze Situation passe auch. „Wir sind als Kinder nie bolzengerade einen Weg gelaufen, sind immer überall rein, haben alles erkundet“, erzählt Christa Thiel.

Gestrandet in Konstanz
In Friedrichshafen besteigen sie und ihre Geschwister im September 1945 ein Schiff nach Konstanz. Zu Fuß laufen sie auf die damals noch wild überwucherte Insel Mainau, schwimmen, kehren in die Schweden-Schenke ein und kommen erst gegen Abend nach Konstanz zurück, wo sie um 18 Uhr am Bahnhof Petershausen keinen Zug mehr finden, mit dem sie weiterreisen können. Es ist Sperrstunde.
Doch die Geschwister werden von mehreren Frauen aufgenommen, die sie bemuttern, ihnen Essen und einen Schlafplatz geben, wie die Thiel-Schwestern erzählen. Die Welt, die sie in der unmittelbaren Nachkriegszeit erleben, ist eine von Frauen, Kindern und älteren Männern geprägte. Wobei alle einander helfen, folgt man den Erinnerungen der Thiel-Schwestern.
Jedenfalls scheint ihre Reise damals von großer jugendlicher Unbefangenheit und Gottvertrauen geprägt gewesen zu sein. „Und dabei hätte weiß was passieren können, es gab ja auch Überfälle zu der Zeit, es waren so viele Menschen unterwegs, wir hatten keine Ausweise dabei. Aber Angst? Nein, die hatten wir keine“, sagt Charlotte Weißer, die älteste.
Eine Reise durch die Region
Nach einer Nacht in Konstanz fahren sie und ihre Geschwister damals im Zug weiter nach Singen, mit Zwischenhalt in Radolfzell. Es folgen drei Nächte bei der Tante in Singen, in deren Haus Flüchtlinge untergebracht sind – und schließlich geht es mit dem Zug nach Aulendorf und wieder zurück nach Laupheim.
Von dort aus werden die Thiel-Schwestern ganz unterschiedliche Wege in ihrem Leben gehen. Herta Eberhard wird Ärztin, bekommt zwei Töchter, zieht später mit ihrem Mann nach Leipzig, wo sie noch heute lebt. Gertrud Freymuth-Thiel macht verschiedene Ausbildungen, arbeitet zunächst als Krankenschwester, später im öffentlichen Dienst, lebt mit ihrem Mann an verschiedenen Orten in Baden-Württemberg und findet schließlich im Kreis Waldshut eine Heimat auf Dauer. Nach ihrem Berufsleben widmet sie sich der Malerei.
Sind sie es wirklich?
Doch sind die beiden nun die Mädchen auf dem Foto, das der Schweizer Fotograf Werner Bischof Anfang September 1945 in der ausgebrannten St. Nikolaus-Kirche in Friedrichshafen gemacht hat? Die Mädchen, die trotz der Ruinen um sie herum eine unglaubliche Fröhlichkeit und Zuversicht ausstrahlen, dadurch wie Ikonen einer besseren Zukunft wirken, die über die Trümmer des untergegangenen Dritten Reiches einfach „hinweg hüpfen“?
Mit letzter Sicherheit lässt sich das freilich nicht sagen. Fotos der beiden Mädchen aus demselben Jahr haben die Thiel-Schwestern trotz intensiver Suche keine gefunden. Ältere Bilder, die sie dem SÜDKURIER zeigen, weisen aber eine frappante Ähnlichkeit zu den Abgebildeten auf Bischofs Foto auf.
Und dann sind da ihre sich überschneidenden Erinnerungen, die zeitliche Übereinstimmung ihrer Reise mit der von Bischof – und schließlich die Fröhlichkeit und das Leuchten in den Augen von Getrud Thiel während des Gesprächs mit dem SÜDKURIER, das stark an die Unbefangenheit der kleinen Mädchen auf Bischofs Foto erinnert.
Anmerkung der Redaktion:
Dieser Inhalt erschien erstmals im Januar 2023 auf SÜDKURIER Online.