Die Donau plätschert gemächlich dahin, die Sonne blinzelt hinter Regenwolken hervor und kaum ein Mensch ist auf der Straße vor dem Privathaus des Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann, wo am Montag hunderte sogenannte „Spaziergänger“ mit Trillerpfeifen, Ratschen, Beschimpfungen und Buh-Rufen für ohrenbetäubenden Lärm sorgten und die deutsche Nationalhymne sangen.
Im beschaulichen Sigmaringer Stadtteil Laiz ist nach zwei unangemeldeten Corona-Demos innerhalb von 24 Stunden vor dem Wohnsitz des baden-württembergischen Regierungschefs wieder Ruhe eingekehrt, doch die Empörung über das Vorgefallene ist groß. „Wir haben kein Verständnis für diese Leute. Die verursachen nur Kosten für die Polizei“, sagt eine Laizerin sichtlich verärgert in der örtlichen Bäckerei dem SÜDKURIER. Ein direkter Nachbar von Winfried Kretschmann ergänzt: „Ich kenne ihn seit 50 Jahren persönlich und verstehe nicht, warum man gegen ihn privat vorgeht. Klar guckt man blöd, wenn so viele Leute vor dem eigenen Haus stehen.“
Lärm unüberhörbar
Auch Bernward Traeger wohnt ganz in der Nähe des bekanntesten Laizers und findet, als Politiker müsse man mit allem rechnen. „Aber ich lehne es ab, dass Demonstranten die Privatadresse aufsuchen. Das Demonstrationsrecht ist ein hohes Gut, aber das ist deplatziert“, sagt der 81-Jährige.

Die junge Laizerin Maike Goldkuhle wohnt auf der anderen Seite der Donau, doch der Lärm der Trillerpfeifen sei am Montagabend unüberhörbar gewesen. „Rücksichtslos“ nennt sie den Aufmarsch, auch wenn sie die Ungeduld der Leute zum Teil verstehen könne. „Ich fände ich es jedenfalls nicht so toll, wenn so viele Leute vor meinem Haus stehen würden“, sagt die 19-Jährige.

Was ist genau geschehen, wer sind diese Demonstranten und was sagt das betroffene Paar Gerlinde und Winfried Kretschmann zu den Aufmärschen vor ihrem Zuhause?
Polizisten halten Demonstranten zurück
Wie an anderen Montagen versammelten sich auch am Valentinstag gegen 19 Uhr rund 150 sogenannte „Spaziergänger“ im Sigmaringer Stadtzentrum, um unangemeldet gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen zu demonstrieren. Doch diesmal blieben sie nicht in der Innenstadt, sondern marschierten schnurstracks mit Laternen und Lichterketten zum Ortsteil Laiz. Auf der etwa zwei Kilometer langen Strecke stießen weitere Teilnehmer hinzu. „In der Spitze waren es 350, vor Ort nicht mehr ganz so viele“, sagt Daniela Baier vom zuständigen Polizeipräsidium Ravensburg.
Mit lautstarken Beschimpfungen und Pfiffen zogen die Demonstranten an der Einfahrt zum Wohnsitz der Familie Kretschmann vorbei, machten an der Donaubrücke kehrt, um sich in Seitengassen aufzuteilen und sich am Ende vor einer Polizeiabsperrung nahe des Politiker-Privathauses zu versammeln.

Mit lauten Buh-Rufen und Beschimpfungen verursachten sie für etwa eine halbe Stunde gehörig Lärm auf der Laizer Hauptstraße, legten den Verkehr zeitweise lahm und sangen die Nationalhymne. Teilweise mussten Polizeibeamte vor Ort Demonstranten zurückhalten, bis diese zurück ins Sigmaringer Zentrum marschierten und sich dort zerstreuten.
„Umzingelt, um vorzudringen“
„Penetranter“ sei der Aufmarsch von etwa 60 sogenannten 'Spaziergängern' am Sonntag vor dem Privathaus des Ministerpräsidenten gewesen, erzählt ein betroffener Anwohner, der anonym bleiben will, dem SÜDKURIER. „Die haben uns wirklich umzingelt und jeden Weg gesucht, um zum Haus der Kretschmanns vorzudringen.“ Leute aus Laiz habe er keine erkannt, „und ich lebe seit 60 Jahren hier“, so der Nachbar.
Eine weitere Laizerin vermutet, dass die Demonstranten von außerhalb anreisen. „Dazu liegen uns keine Erkenntnisse vor“, sagt Polizeisprecherin Daniela Baier. Laut ihr hätten sich die sogenannten „Spaziergänger“ aus Personen aus dem bürgerlichen Spektrum zusammengesetzt. Einen Versammlungsleiter habe die Polizei am Montag im Gegensatz zum Vortag nicht feststellen können, weshalb es auch zu keiner Anzeige gekommen sei, so Baier.
Der SÜDKURIER konnte in Laiz auch mit Gerlinde Kretschmann sprechen, die im Gegensatz zu ihrem Mann beide Aufmärsche vor ihrem Zuhause miterleben musste. „Ich fühle mich schon bedrängt. Die Teilnehmer von der Demo täte ich fragen, wie sie sich fühlen würden, wenn jemand, der anderer Meinung ist, in so einer Anzahl vor ihrem Haus erscheinen würde. Wie würden sie sich fühlen?“, fragt die 75-Jährige und sagt, dass es ihr seit Stunden gar nicht gut gehe.

Als Vorsichtsmaßnahme verständigen zwei Polizeibeamte, die das Gespräch mit angehört haben, den Rettungsdienst. Kurz darauf wird auch ein Notarzt hinzugerufen, obwohl Gerlinde Kretschmann, die erst vor kurzem eine Krebserkrankung überstanden hat, sichtlich keine Umstände bereiten möchte. Nach etwa zehn Minuten scheint es ihr wieder besser zu gehen.
„Auf Kriegsfuß mit Demokratie“
Fast zeitgleich erklärt ihr Mann Winfried Kretschmann in Stuttgart, dass Demonstranten vor Wohnhäusern von Politikerinnen und Politikern eine rote Linie überschreiten würden. „Das kann in keiner Weise geduldet werden. Die, die das machen, zeigen, dass sie mit der Demokratie auf Kriegsfuß stehen – oder sie mindestens nicht verstanden haben“, sagt der Ministerpräsident.
Seine Frau sei am Sonntag nach Hause gekommen, habe viel Polizei gesehen und sich ziemlich erschrocken. So etwas sei noch schlimmer, wenn die Familie einbezogen würde. Die Lage werde nun auch im Internet genau beobachtet, sagt Kretschmann mit Blick auf mögliche weitere Proteste rund um seinen Wohnsitz. Er und seine Frau fühlten sich jedoch „gut behütet und beschützt“ von Polizei und Sicherheitsbehörden.
Klare Worte findet auch der für Sigmaringen zuständige Ravensburger Polizeipräsident Uwe Stürmer im SÜDKURIER-Gespräch: „Was ich wirklich bedenklich finde, ist, dass versucht wird, die Privatsphäre zu stören. Das ist eine deutliche Grenzüberschreitung, da verlässt ein Teil der Akteure den demokratischen Sektor.“ Die Demonstranten eint offenbar ein gewisser Frust und manchmal auch eine Verachtung für den Staat.
„Dass da neben Impfgegnern auch einige Realitätsabstreiter und Reichsbürger mit unterwegs sind, liegt nahe, lässt sich aber nicht belastbar belegen. Für uns war klar, dass das am Sonntag wahrscheinlich kein einmaliger Vorfall bleibt, deshalb haben wir Kräfte zusammengezogen, um den Grundschutz zu gewährleisten“, sagt Stürmer dem SÜDKURIER. Er appelliert an die Vernünftigen und Anständigen unter den sogenannten „Spaziergängern“, dass diese Art des Protests nichts mit demokratischen Gepflogenheiten zu tun hat.