An dieser Schule ist irgendwie alles normal. Der Unterricht findet statt an der Gesamtschule in Neuhausen am Rheinfall. Und zwar für alle Klassen. Wie das? Anders als im vergangenen Frühjahr haben sich die Schweizer gegen eine generelle Schulschließung gestellt – und sind damit erstaunlich gut gefahren, scheint es.
Zwar führt das Bundesamt für Gesundheit keine Statistik zu Infektionsfällen in den Schulen, lediglich zu den relevanten Altersklassen. Doch der Blick auf die generellen Infektionszahlen zeigt: Die Inzidenzen nähern sich zunehmend an Deutschland an – trotz offener Schulen. Dabei gibt es nicht in allen Kantonen eine Maskenpflicht und wenn, dann meist erst ab der 5. Klasse.
In der kleinen Gemeinde Neuhausen nahe der deutschen Grenze leben 11.000 Einwohner, etwa 1000 Schüler besuchen hier die Schule. Es gibt elf Kindergärten. Nichts davon war geschlossen. „Die Entscheidung hat sich bewährt“, sagt Ruth Marxer, Leiterin der ?Dienststelle Primar- und Sekundarstufe I im Kanton Schaffhausen.
Infektionsrisiko gegen Risiko für Lernschwächere abgewogen
Aber wieso das Risiko eingehen? „Die Erfahrungen im Frühjahr haben auch gezeigt, dass ein Risiko besteht, lernschwächere Schüler und solche aus bildungsfernen Familien im Fernunterricht zu verlieren“, ergänzt Ruth Marxer, Leiterin der Dienststelle Primar- und Sekundarstufe I des Kantons Schaffhausen.

Von 150 Lehrern hatten seit November 14 Corona, von den 1000 Schülern waren 30 betroffen. Dennoch war bislang keine einzige ganze Klasse in Quarantäne, die Schule musste nie geschlossen werden in der zweiten Welle. Der Kanton Schaffhausen gehört zu den Kantonen mit den tiefsten Infektionszahlen.
Michael Ruh ist Schulleiter der Realschule in Neuhausen. Die Pandemie gehört hier zum Alltag, scheint es. „In den zehn Klassen gibt es fast immer einen Schüler, der positiv getestet wird“, sagt der Schulleiter. Aber die Prozesse, die folgen, sind standardisiert. Es muss nicht die gesamte Klasse in Quarantäne, der Unterricht geht weiter.
An die Maskenpflicht, die es hier erst seit Oktober gibt, hätten sich die Schüler inzwischen gewöhnt. „Die Eltern unterstützen den Präsenzunterricht“, stellt Marcel Zürcher, Leiter der Schulbehörde, klar. Derzeit sind zwei von 1000 Schülern im Fernunterricht, weil die Eltern Risikopatienten sind. Nach den Erfahrungen der ersten Welle, als die Schulen geschlossen blieben, schmolz der Widerstand.
Schulleiter Ruh macht keinen Hehl daraus, dass es viele positive Fälle an seiner Schule gegeben hat. „Aber nie hat sich eine Klasse zu einem Hotspot entwickelt“, betont er. Mal ein Mitschüler ja, aber keine gesamte Klasse. Das weiß er sicher, denn wenn es zwei positive Fälle pro Klasse gibt, dann wird die gesamte Klasse getestet. Sind es mutierte Fälle, ist es möglich, die ganze Schule zu testen. Zwei Mal hat es bislang Massentests gegeben, alle waren negativ, so der Schulleiter.
Sind Kinder also doch weniger ansteckend?
Bildungsreferent Ruedi Meier glaubt, dass Kinder einfach weniger ansteckend seien. Für seine Theorie spricht, dass es keinen wesentlichen Unterschied zwischen der ersten Welle, als die Schulen geschlossen waren und der zweiten Welle, als die Schulen geöffnet blieben, gibt.
Und er sagt: „Die Schweiz stand viel schlechter da als Deutschland, was die Infektionszahlen angeht. Jetzt sind wir fast gleich auf trotz Präsenzunterricht.“ Für ihn ist es nicht nachvollziehbar, „dass die Schulen in Deutschland so rigoros geschlossen sind.“
Er jedenfalls glaubt, der Schweizer Weg sei der bessere in diesem Fall. Aber er sagt auch: „Ob es wirklich besser war, wird die Zeit zeigen, aber im Moment sind wir auf einem guten Weg.“ Derzeit scheinen die Schutzkonzepte zu greifen.
Schulleiter Ruh ist jedenfalls froh darum, dass seine Schüler durchgehend zur Schule kommen konnten. Der soziale Umgang, die Kontakte in die Berufswelt, die es im Vorfeld zum Realschulabschluss zu knüpfen gilt, all das spiele eine Rolle für die Entwicklung der Schüler.
In der Grundschule spielt das nach Meinung des Schulleiters Hansruedi Meyer noch eine viel größere Rolle. „An der Primarschule geht es fast nicht ohne“, sagt er mit Blick auf den Präsenzunterricht. Er ist froh darüber, auch wenn es vor den Ferien ein paar Fälle in einer seiner Klassen gab.

Auch die Schüler bestätigen das Bild: Die zweite Klasse ist gerade in Gruppen aufgeteilt, ein Teil hat Musikunterricht, der andere Teil ist mit der Klassenlehrerin im Sitzkreis beschäftigt. Die Schüler sind sich alle einig – viel lieber zur Schule als zu Hause bleiben.
Die älteren Schüler sind nicht alle so angetan: Sie haben in der ersten Welle das selbstbestimmte Arbeiten zu Hause schätzen gelernt, die größeren Freiheiten. Etwa ein Drittel der Klasse hebt die Hand auf die Frage, ob sie lieber zu Hause lernen würden.

Trotzdem sagen auch hier die meisten: Der soziale Kontakt zu den Klassenkameraden fehlt schon ohne Präsenzunterricht, die Konzentration ist in der Schule höher, sagt ein Schüler der Abschlussklasse. Der Unterricht sorgt für kontinuierliches Arbeiten, zu Hause kann man auch mal Pause machen, ohne dass es jemand mitbekommt.
Doch eines fällt auf beim Blick in die Klassenzimmer: Sie sind mit durchschnittlich 20 Kindern und Jugendlichen deutlich kleiner als in vielen deutschen Schulen. Wenn Meiers Theorie stimmt, spielt die Klassengröße wohl eine untergeordnete Rolle. Kaum ein Mitschüler wird von einem positiv getesteten Klassenkameraden angesteckt, zeigen zumindest die Erfahrungen der Neuhausener Schule.
Positive Bilanz
Ist das nur eine Momentaufnahme? Im Kanton Schaffhausen ist die Bilanz generell positiv: „Es hat sich gezeigt, dass die Schutzmaßnahmen in den Schulen sehr gut greifen. Insgesamt gab es wenig Fälle“, sagt Sprecherin Ruth Marxer. Vereinzelt musste demnach eine Klasse oder eine ganze Schule „in den Fernunterricht gesetzt werden, dies aber vor allem aus psychologischen Gründen, im Sinne einer Beruhigung der Situation“, ergänzt sie.
Auch in anderen Kantonen fällt auf, dass die Inzidenzen auch unter Jugendlichen höher waren, doch trotz weiterhin geöffneter Schulen nach und nach sank. Die Vermutung liegt nahe, dass die anderen Maßnahmen gewirkt zu haben scheinen, ohne dass die Schulen dafür geschlossen werden mussten. Belegbar ist das aber kaum – welche Maßnahme wie viel gebracht hat, lässt sich im Nachhinein kaum bestimmen.
Der Kanton Basel-Land bietet zudem freiwillige Schnelltests an, wobei auch „breite Testungen an Schulen“ stattfinden. Auch im Kanton Zürich geht man so vor: Treten innerhalb kurzer Zeit mehrere Infektionsfälle auf, werden alle Schüler und Lehrer der Schule getestet, erklärt Sprecherin Ziegler. Im Aargau startet in dieser Woche ein Pilotprojekt an zwei Schulen.
Im Kanton Schaffhausen wie auch im Kanton Basel-Stadt verzichtet man auf Schnelltests. Dort gab es nach Angaben des Regierungsrats Conradin Cramer nur „vier bis fünf Clusterbildungen an Schulen“, wo also ganze Schulklassen in Quarantäne geschickt wurden. Bleiben so Cluster möglicherweise unentdeckt?
Webseite warnt vor Clustern
Eine anonyme Initiative von Eltern veröffentlicht auf einer selbsterstellten Webseite Cluster. Wie verlässlich die dort angezeigten Cluster sind, ist unklar. Viele der Informationen sind nicht verifiziert. Derzeit gibt es Überlegungen, die Fallzahlen an Schulen von offizieller Seite transparenter zu machen, deutet Marxer an.
Der Präsenzunterricht ist richtig und wichtig, das ist der Tenor in den Grenzkantonen. Die Erfahrungen aus dem Frühjahr sind überforderte Eltern und die Erkenntnis, dass manche Schüler in der Schule besser gefördert werden können.
Kantone halten an Präsenzunterricht fest
Die soziale Verantwortung fällt immer wieder im Austausch mit den Schulbehördensprechern. Die Schule sei „ein Ort der Stabilität, Kontinuität und Integration“, formuliert es die Zürcher Sprecherin Myriam Ziegler.
Die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) hält die Schulöffnung auch weiterhin für richtig – Mutationen hin oder her. „Die Einstellung des Präsenzunterrichts ist für die Kantone nach wie vor Ultima Ratio“, sagt Sprecher Alexander Gerlings auf Anfrage. Vorher sollten andere Maßnahmen ergriffen werden.
Danach sieht es derzeit nicht aus: Die Schweiz geht nach einem kurzen etwas härteren Lockdown wieder auf Lockerungen zu.