Herr Lucha, wenn Sie eine Diagnose für unser Gesundheitssystem erstellen müssten, welche wäre das?

Wir haben Erkältungserscheinungen, die sich aber mit den entsprechenden Therapien in den Griff kriegen lassen. Wir müssen aber einige Sünden der Vergangenheit ausbaden.

Welche sind das?

Uns fehlen eineinhalb Generationen an Ärzten – und insgesamt Pflegepersonal. Das lässt sich nicht einfach so beheben. Das geht auf die Reform von Horst Seehofer zurück und seiner Politik des „knappen Geldes“, die zu ungesunden Einsparungen beim Personal geführt hat.

Wann wird unser System denn wieder gesund?

Unser Gesundheitssystem ist ein Dauerpatient. Mit einer Ibu ist es jedenfalls nicht getan. Wir brauchen einen längeren Atem und verschiedene Therapieansätze. Ich hoffe, dass wir das in den nächsten Jahren hinbekommen.

Was genau muss dafür geschehen?

Vor allen Dingen müssen wir Bürokratie abbauen: Die permanenten Leistungskontrollen werden wir uns nicht leisten können. Dafür müssen wir einen Sprung in Sachen Digitalisierung machen. Da sind wir noch absolutes Entwicklungsland. Außerdem müssen wir die Kliniken gezielter ausrichten, größere Häuser mit breiterem Spektrum und einer besseren Organisation aufbauen. Dann haben wir eine Chance auf Heilung.

Apropos Heilung. Wie sehr beschäftigt Sie noch die Pandemie? Und wo stehen wie als Land gerade?

Die Sommerwelle scheint abzuflauen, allerdings ist die Inzidenz nur bedingt aussagekräftig, wir rechnen mit einer hohen Dunkelziffer, weil sich weniger Menschen testen lassen. Allerdings haben wir auch die niedrigste Positivrate seit fünf Wochen bei den PCR-Tests mit unter 50 Prozent.

Entscheidender ist aber der Rückgang der Covid-Patienten auf den Intensiv- und Normalstationen. Heute haben wir nur noch 114 Patienten auf der Intensivstation und 1406 auf der Normalstation, vor einer Woche waren es fast 300 mehr. Angespannt bleibt die Behandlungsseite, also die personelle Situation in den Kliniken.

Wie ist denn die Lage bei den Pflegekräften und Ärzten?

Dort haben wir einen überdurchschnittlich hohe Ausfälle mit Krankenständen von teils 14 Prozent in den Kliniken. Fünf Prozent aller Krankheitsfälle gehen derzeit auf Atemwegserkrankungen zurück, das hatten wir noch nie.

Woran liegt das?

Wir sind nach zweieinhalb Jahren Pandemie einfach empfänglicher für Infektionen. Aber inzwischen gehen 68 Prozent der aktuellen Atemwegserkrankungen auf die Parainfluenza und Rhinoviren zurück. Das beschäftigt uns inzwischen weit mehr als Covid.

Herrscht in Ihrem Ministerium trotzdem wieder Normalbetrieb?

Normalbetrieb gibt und gab es bei uns nie, zumal wir schon vor der Pandemie zu wenig Personal hatten. Durch die Pandemie sind einige Mitarbeiter überlastet worden und haben zum Teil Burnout erlitten. Außerdem beschäftigen uns noch immer Verfahren beim Verwaltungsgerichtshof, auch wenn wir in den allermeisten Fällen Recht bekommen.

Aber einige Verordnungen wurden auch kassiert…

Das sind aber nur drei Prozent. Und auch da wurde im Wesentlichen die epidemische Herleitung dabei gewürdigt. Es ging vielmehr um Formfehler, etwa, dass eine Unterschrift nicht auf Papier vorlag.

Sie persönlich standen im vergangenen Jahr auch ziemlich unter Feuer. Wie gehen Sie heute mit Ihrem Job um?

Ich bin inzwischen dienstältester Gesundheitsminister, also ich bin immer noch da. Vor einem Jahr hat man mir den Stress angesehen, inzwischen wiege ich wieder etwas mehr. Ich bin aber auch niemand, der aufgibt. Im Spanischen bedeutet Lucha ja Kampf.

Kämpfen mussten Sie auch selbst mit Corona, haben Sie sich trotzdem schon ein viertes Mal impfen lassen?

Ja, da ich viele Kontakte habe und mit Bronchitis zu tun habe, habe ich schon eine vierte Impfung bekommen. Und nach Rücksprache mit meinen Ärzten werde ich im Winter sicherlich auch eine erneute Auffrischungsimpfung mit den angepassten Impfstoffen machen.

Bild 1: Sozialminister Lucha fordert vierte Impfung für alle
Bild: Hanser, Oliver

Die soll ja ab September oder Oktober verfügbar sein. Bislang hat die Stiko sie aber nur älteren Menschen und Risikopatienten empfohlen. Lauterbach will eine Empfehlung für alle. Sie auch?

Ja. Jedem, der sich impfen lassen will, würde ich sagen: Tu es – nach Rücksprache mit dem Arzt – unabhängig von der Stiko-Empfehlung. Wir sollten ein breites Impfangebot haben und sollten uns nicht nur auf die über 70-Jährigen und die vulnerable Bevölkerung beschränken. Wir brauchen einen breiten Konsens in dieser Frage. Die Leute wissen ja gar nicht mehr, was sie glauben sollen bei den vielen verschiedenen Meinungen, die da vertreten werden.

Wie ist das Land denn auf die erneuten Impfungen vorbereitet und wo kann man sich impfen lassen?

Wir haben ein Buchungstool erstellt, das auch funktionieren und die Terminvergabe vereinfachen wird. Außerdem sind inzwischen 7000 Praxen niedergelassener Ärzte in Baden-Württemberg bei den Impfungen verlässlich dabei, hinzu kommen auch Zahnärzte und Apotheken. Wir können so wöchentlich 800.000 Impfungen leisten. Das ist schon eine Menge.

Was, wenn das nicht ausreicht?

Wir haben immer noch die Impfteams und könnten bei Bedarf Impfstützpunkte aufbauen, als letzte Verteidigungslinie sozusagen. Aber wir werden sicher auch nicht mehr eine so hohe Impfnachfrage erleben wie bei den ersten Impfungen. Wir rechnen mit vier bis acht Millionen Impfungen.

Die Impfquote war in Baden-Württemberg im Bundesvergleich nie eine der besten. Woran liegt das?

Wir sind eben anarchisch-monarchische Südländer. An die Impfquoten im Norden kommen wir nicht ran. Die Menschen in Schleswig-Holstein und Niedersachsen sind wohl einfach staatstreuer und glauben der Wissenschaft, dass die Impfung gut für sie ist.

Ist sie das immer noch? Viele Kritiker verweisen auf Infektionen mit heftigen Symptomen trotz Impfung.

Ja, auf jeden Fall. Die Impfung schützt immer noch zuverlässig vor schweren und schwersten Verläufen. Das zeigen uns Länder wie Portugal und Israel, wo bereits zum vierten Mal geimpft wurde und es nahezu keine Todesfälle mehr gab.

Trotzdem ist die Impfpflicht inzwischen vom Tisch. Hätten Sie sie befürwortet?

Ja, für Menschen über 60 Jahre hätte ich das schon gut gefunden. Aber dieses Pferd ist politisch tot geritten, da muss man irgendwann absteigen. Diese Debatte kann man nicht mehr gewinnen.

Sozialminister Manfred Lucha (Grüne, von links) im Gespräch mit den SÜDKURIER-Redakteuren Dieter Löffler, Angelika Wohlfrom, Mirjam ...
Sozialminister Manfred Lucha (Grüne, von links) im Gespräch mit den SÜDKURIER-Redakteuren Dieter Löffler, Angelika Wohlfrom, Mirjam Moll, Elisa-Madeleine Glöckner, Stefan Lutz und Dominik Dose. | Bild: Hanser, Oliver

Bei den Pflegekräften bleibt die einrichtungsbezogene Impfpflicht noch bis Jahresende bestehen. Trotzdem wurden bislang keine Betretungsverbote ausgesprochen. Was hat die Regelung denn überhaupt gebracht?

Sie hat dazu geführt, dass sich von 30.000 noch nicht geimpften Pflegekräften Stand Ende Juni immerhin rund 13.000 haben impfen lassen. Klar ist aber auch: Die Versorgung der Patienten darf nicht gefährdet sein, deshalb gab es bislang keine Betretungsverbote.

Wie ist denn die Versorgungslage beim Personal derzeit?

Abgesehen vom generellen Personalmangel gibt es urlaubsbedingt und durch höhere Krankheitsstände schon Engpässe – in keinem Krankenhaus können wir von Normalbetrieb sprechen. In der Notaufnahme gibt es immer Druck.

War die Impfpflicht für Pflegekräfte ein Fehler?

Nein, aus damaliger Sicht war sie nachvollziehbar und auch als Vorläufer einer allgemeinen Impfpflicht gedacht. Dass sie dann alleine stehen geblieben ist, hat aber zugegeben nicht gerade für mehr Akzeptanz gesorgt.

Wie viele Pflegekräfte sind wegen der Impfpflicht abgewandert oder haben die Branche gewechselt?

Das kann ich Ihnen nicht sagen.

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Auch beim sogenannten Instrumentenkasten hätten Sie sich mit Blick auf den Herbst mehr gewünscht. Aber müssen wir nicht auf mehr Eigenverantwortung der Bürger setzen?

Wir haben schon oft an die Eigenverantwortung appelliert, aber effektiv Infektionen eingedämmt haben wir nur mit konkreten Maßnahmen, an die sich die meisten Menschen auch gehalten haben. Natürlich haben wir jetzt eine andere Situation. Wir gehen davon aus, dass 94 Prozent der Bürger durch Impfungen oder Infektionen eine Immunreaktion gebildet haben.

Sollte je, was wir zu verhindern versuchen, eine herausfordernde Lage kommen, müsste die epidemische Lage von nationaler Tragweite ausgerufen werden. Es gibt dann kein Länder-Kleinklein mehr, sondern eine bundespolitische Verantwortung.

Bild 3: Sozialminister Lucha fordert vierte Impfung für alle
Bild: Hanser, Oliver

Noch ein ganz anderes Thema: In der Debatte um eine Zusatzweiterbildung im Bereich Homöopathie stellen Sie sich gegen den Beschluss der Landesärztekammer, diese zu streichen. Glauben Sie an die Wirksamkeit der Homöopathie?

Ja. Da sehen wir beispielsweise im Klinikum Heidenheim, wo auch mit homöopathischen Mitteln behandelt wird, die nachweislich wirken. Wir sind ja in Baden-Württemberg das Stammland integrativer Medizin, wir haben Lehrstühle eingerichtet und mit der Integrativen Onkologie am Robert-Bosch-Krankenhaus in Stuttgart haben wir in diesem Bereich ein führendes Klinikum.

Ich glaube, dass die integrative Medizin gut zum Land passt. Einer meiner Lehrmeister, der Sozialpsychiater Professor Schmidt-Michel, der auch auf der Reichenau gewirkt hat, hat mal gesagt: Wer heilt, hat Recht. Im Übrigen gibt es keinen Zwang zur homöopathischen Behandlung. Wenn sich aber jemand dafür entscheidet, soll er nach besten, qualitativen Gesichtspunkten behandelt werden.

Aber die Bürger zahlen diese Behandlungen ja über ihre Kassenbeiträge mit.

Das ist doch ein Nebenkriegsschauplatz. 16 Millionen sind bei den Milliarden, die in unser Gesundheitssystem fließen, doch ein vergleichsweise geringer Anteil. Das ist kein Argument.