Um 11.51 Uhr erhebt sich der Angeklagte. Mehr als zwei Stunden lang hat sich der Mann vor dem Landgericht Waldshut-Tiengen angehört, was er für ein Mensch sei und wie er bestraft werden sollte.
Jetzt, endlich, darf er sprechen. Er ringt nach Luft, bevor er mit tränenerstickter Stimme: „Ich habe getötet. Das tut mir unendlich leid.“ Er bereue die Tat zutiefst. Und dann holt er das nach, was die Vertreterin der Nebenklage bislang vermisste: „Ich möchte mich auch bei den Angehörigen entschuldigen.“
Fragezeichen bleiben
Der 58-Jährige, ein Familienvater, passionierter Schütze und Jäger, hatte sich am 25. April dieses Jahres bei der Polizei gestellt. Die Polizei tappte bis dahin im Dunkeln: Was ist mit Mahdi Bin Nasr passiert, einem 38 Jahren Tunesier, der in Rickenbach verschwand und dessen Leichenteile später im Rhein entdeckt wurden? Doch auch nach der Beweisaufnahme am Landgericht Waldshut-Tiengen gibt es nur die Version des Angeklagten.
„Was für ein Schicksal“
Auch am fünften Tag des Verfahrens gegen den tiefgläubigen Christen betritt dieser den Saal mit Bibel, OP-Maske und Mütze. Nach dem sich Kammer, Staatsanwalt und Verteidiger am dritten Verhandlungstag auf einen Strafkorridor von nicht mehr als sieben und nicht weniger als sechs Jahren verständigt hatten, schloss sich dem Verfahren die Schwester des Getöteten als Nebenklägerin an.
„Was für ein Schicksal“, beginnt Oberstaatsanwalt Christian Lorenz am Dienstag sein Plädoyer. Da breche ein 25-jähriger Mann von einem anderen Kontinent auf, um sich den Traum von einem besseren zu Leben zu erfüllen. Um dann dort, Jahre später, als Leiche den Fischen zum Fraß vorgeworfen zu werden.
Lorenz zeichnet die schicksalhafte Begegnung zweier Menschen nach, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Da sei ein junger Mann, der nie wirklich Fuß gefasst hat in Deutschland, massiv straffällig geworden war und abgeschieden im Südschwarzwalzwald strandete. Einfach sei er nicht gewesen, aber auch keine Gefahr für unbescholtene Bürger.
Warum setzt man alles aufs Spiel?
Und da sei ein Mann, der Angeklagte, der einiges geschafft hat im Leben, der nicht vorbestraft ist, dafür religiös sei, eine Familie habe, die ihm beisteht. Ein Mann, der das gehabt hat, wovon so viele andere träumen.
Ein Mann, dessen Entscheidungen aber auch Fragezeichen aufwerfen: Was muss man sich denken, mit einer illegalen Waffe in den Weihnachtsurlaub reisen? Warum rief er nicht die Polizei, nachdem er möglicherweise bedroht worden ist? Warum geht man mit jener Waffe rauf zur Unterkunft des anderen? Warum setzt man alles aufs Spiel? Antworten auf diese Fragen habe man vor Gericht nicht gefunden.

Zur „Ehrlichkeit dieses Verfahrens“ gehört aber: Dieses hätte es eben nicht ohne den Angeklagten gegeben. Auch eine 60 Personen starke Sonderkommission hätte ihn wohl nicht überführen können. Stattdessen habe der Angeklagte die Ermittler zu Teilen der Leiche und zur Waffe geführt, die sonst wohl im Schlick vor Schwörstadt noch 100 Jahre lang nicht gefunden worden wäre.
Sein Verhalten nach der Tat, seinem Opfer noch die „postmortale Würde“ zu nehmen, könne man hier nicht strafverschärfend verwenden – auch wenn das für Angehörige schwierig zu verstehen sei. Lorenz plädiert wegen Totschlags auf sieben Jahre.
„Er war ein ganz normaler Mensch“

Diesem Antrag schloss sich auch die Nebenklägervertreterin an. Die Freiburger Rechtsanwältin Claudia Meng zeichnete zuvor ein anderes Bild von Bin Nasr: „Mahdi hatte keine Möglichkeit, sich zu wehren – in der Nacht nicht, und heute nicht.“ Bin Nasr habe sich sehr wohl um Arbeit bemüht, später um seine Rückreise und sei ebenso religiös gewesen. Direkt an den Angeklagten gerichtet, sagt Meng später: „Er war ein ganz normaler Mensch, und nicht weniger wert als Sie.“
Zweifel an freiwilligem Geständnis
Dass der Angeklagte und sein Anwalt sämtliche Strafakten des Toten in das Verfahren einbrachten, sei daneben: Der Angeklagte kannte den Mann nicht, als er auf ihn schoss. Was er mit dem Leichnam getan habe, sei einfach nur ekelhaft gewesen.
Dazu verliest Meng Briefe, die der 58-Jährige aus dem Gefängnis an seine Familie schrieb: Darin beklage er voller Selbstmitleid die Haftbedingungen oder er vergleiche sich mit einem Helden, der womöglich ein weiteres Attentat wie in Mannheim verhindert habe. Dort hatte ein Mann aus Afghanistan einen Polizisten erstochen.
Außerdem zweifelte Meng an, wie freiwillig das Geständnis des Maulburgers tatsächlich war. Der 58-Jährige habe sich erst gestellt, nachdem der Leichnam gefunden worden und die Polizei wegen eines Tötungsdelikts ermittelte. Zuvor seien er und sämtliche Gäste aus dem Ferienhaus bereits zu einer DNA-Abgabe aufgefordert worden. Offen sei auch, ob der Angeklagte wirklich alleine zur Asylunterkunft ging.

„Ein Nazi ist er nicht“
Verteidiger Waldemar Efimow sagt, es sei ein aufwühlender Fall. Er habe die Akten zu Bin Nasrs Vorstrafen darum eingebracht, um die Aussagen seines Mandanten zu überprüfen. Daraus gehe hervor, dass das Opfer immer wieder aggressiv aufgefallen war. Sein Mandat habe sich ohne Druck gestellt, er sei von Reue zerfressen und habe auch vor Gericht sein Geständnis wiederholt – und so auch eingeräumt, dass es für Notwehr nicht reicht. Er hätte dem Toten auch ein Messer in die Hand legen können. Doch das habe er nicht getan.
Wie schon Lorenz sieht auch Efimow keine „objektive Gefahrenlage“ am 23. Dezember. Der Angeklagte sei zutiefst erschüttert, wenn nicht sogar zerstört. Und: ‚Ein Nazi ist er nicht‘. Efimow hält für seinen Mandanten eine Strafe von sechs Jahren für ausreichend.
Urteil: Neuer Termin steht fest
Am Montag, 18. November, will die Kammer um den Vorsitzenden Richter Martin Hauser ihr Urteil verkünden. Dann könnte womöglich auch die Schwester des Getöteten noch ein Visum erhalten und an den Hochrhein reisen. Ihrer Anwältin zufolge wolle sie dem Angeklagten in die Augen schauen und sehen, ob er sie in seinen Augen Reue erkennen könne.