Man könnte meinen, es sei Party auf dem Cannstatter Wasen. Tausende haben es sich am Samstagnachmittag bei bestem Frühlingswetter auf dem Areal bequem gemacht, auf das bis vor einer Woche eigentlich hätten die Massen zum Stuttgarter Frühlingsfest strömen sollen – abgesagt, wie alles andere.
Stattdessen hat dort die Initiative „Querdenken711“ um den Initiator Michael Ballweg erneut zur Kundgebung und 8. Mahnwache für das Grundgesetz aufgerufen, zur Großveranstaltung gegen die Corona-Einschränkungen und für die Freiheits- und Versammlungsrechte. Nur 5000 dürfen in den engeren Bereich vor die Kundgebungsbühne, vielleicht 2000 sind es es in einem weiteren Ausweichbereich, dazwischen rund 500 Ordner, die wenig zu tun haben und über Mund und Nasen mehr oder weniger Schutz tragen – das war eine der viel kritisierten Auflagen für die Veranstaltung.

Das befürchtete Chaos aber ist ausgeblieben, bei Weitem drängen keine 50.000 Menschen, wie von Ballweg ursprünglich angemeldet, auf den Wasen. Viele haben Liegestühle und Matten mitgebracht, einen Abstandsbereich um sich mit Flatterband oder Kreide markiert. Eltern sitzen mit Kindern in einem Extra-Areal direkt vor der Bühne, die Menschen sind fröhlich, viele tanzen zur Partymusik aus den Lautsprechern. Regenbogenfarbene Peace-Flaggen, aber auch viele schwedische und deutsche Fahnen flattern.
Auf Plakaten werden freie Gottesdienste und die Besinnung auf Jesus gefordert, ein Ende des Organhandels in China, die Abschaffung von Rundfunkgebühren, es wird gegen Impfzwang und Bill Gates demonstriert, für Tierschutz, gegen Bargeldabschaffung und das Großkapital. Aber vor allem für das Ende der Corona-Einschränkungen. Und ja – es gibt auch die Besucher, die sich in die schwarz-weiß-rote Reichsflagge hüllen, die T-Shirts mit dem Aufdruck „Nationaler Widerstand“ in Frakturschrift tragen und die auf den Armen, Waden und ausrasierten Stiernacken martialische Tattoos zeigen. Sie tanzen nicht.
Ein Konfetti von unzähligen kleinen Zetteln auf dem gesamten Areal warnt davor, dass sich auch Rechte auf der Veranstaltung tummeln.
Wer wissen will, was normale Bürger in diesen Tagen noch umtreibt außer Corona, muss hierher kommen. Die Menschen tragen ihr tiefes Misstrauen gegen die Politik und pauschal gegen Medien, die sie für fremdgesteuert und gleichgeschaltet halten, auf Plakaten und T-Shirts nach außen. Manche bekennen auf Nachfrage freimütig, nie eine Zeitung zu lesen – dass alle das Gleiche schreiben und „nicht objektiv berichten“, wissen sie aber dennoch ganz genau.
Misstrauen gegen Medien
Medienvertreter müssen lange fragen und viel Überzeugungsarbeit leisten, bevor sie jemand finden, der mit Namen und Gesicht zu seiner Meinung stehen will. Einer davon ist der Bauingenieur Paul Heim aus dem Stuttgarter Umland, schon zum dritten Mal auf einer Corona-Demo.
„Ich habe den Eindruck, dass die Maßnahmen total überzogen sind, weil es keine Pandemie ist“, sagt Heim, „und dass sie benutzt werden, um Grundrechte einzuschränken.“ Er habe sich in den vergangenen Jahren radikal politisiert, sagt er, weil er sich von der Politik und seinen gewählten Abgeordneten nicht mehr vertreten fühlte. „Jahr für Jahr sterben Menschen an Infektionskrankheiten, ohne dass es die Politik kümmert. Aber wie viele Menschen infolge der Einschränkungsmaßnahmen sterben, werden wir vielleicht erst in einem Jahr wissen – wenn es überhaupt untersucht wird.“

Die Esslingerin Isolde Eisenhardt dagegen ist gekommen, weil sie nicht fassen kann, wie die Quarantäne- und Isolationsregeln in den Pflegeheimen gehandhabt werden. „Meine Geschwister und ich haben unsere nach einem Schlaganfall schwer pflegebedürftige 85-jährige Mutter seit dem 14. März nicht mehr besuchen können“, sagt sie, „das ist der Hauptgrund, warum ich gekommen bin. Es belastet uns unfassbar, weil sie hilflos ist und wir unserer eigenen Mutter nicht helfen können.“ Sorge, selbst zu erkranken, hat sie nicht. „Der beste Schutz ist ein gutes Immunsystem, und Angst schwächt das Immunsystem“, sagt sie.
Auch Bärbel R., Krankenschwester aus Stuttgart, hält die ganzen Einschränkungen für maßlos überzogen und sorgt sich um das Wohl der Kinder. „Mir macht das Angst, wenn ich sehe, wie sich die Kinder in der Schule verhalten sollen, wie sie verängstigt sind, keinen Kontakt haben dürfen“, sagt sie. „Die Menschen mussten schon immer mit Infektionskrankheiten leben, wie viele jedes Jahr etwa an Tuberkulose sterben, interessiert gar niemanden. Da stimmt die Verhältnismäßigkeit nicht mehr, das schadet uns als Gesellschaft mehr, als es uns nützt.“
Wodarg wettert gegen „Angstmache“
Auf der Bühne bejubeln die Menschen derweil den aus Ghana stammenden niederländischen Sänger „Nana Lifestyler“, der als Einheizer durchs Programm führt und nebenbei den Vorwurf zurückweist, Neonazis nahe zu stehen.

Redner sind die Autorin und „Seelenforscherin“ Christiane Weihmann Römmele, der serbische Autor Milorad Krstic und, per Video-Leinwand zugeschaltet, der Arzt und frühere SPD-Bundestagsabgeordnete und Gesundheitspolitiker Wolfgang Wodarg. Er wettert gegen Corona-Panik und Angstmache und fordert, den Abgeordneten Druck zu machen, um den Lockdown zu beenden. „Es sind einige Menschen an Covid 19 gestorben, das ist alles. Die Angst hat die Menschen verrückt gemacht“, sagt Wodack, „wenn wir den Test nicht hätten, würden wir gar nichts merken.“
Initiator Ballweg verabschiedet sich am Ende von den Menschen, die er maßgeblich mit „Querdenken“ auf die Beine und auf den Wasen gebracht hat – er werde keine Demonstration mehr organisieren, sich zurückziehen, kündigt er an, auch politisch will er nicht aktiv werden. „Ich gebe den Ball weiter an euch“, sagt er, „jeder Einzelne kann für seine Grundrechte einstehen, das kann auch mit einer kleinen Demo sein.“ Vor das Bundesverfassungsgericht, sagt er später vor der Presse, will er dennoch ziehen – und prüfen lassen, ob die Beschränkung einer Demonstration auf eine bestimmte Teilnehmerzahl – wie in Stuttgart erfolgt – rechtens ist. Auch Ballweg hatte zuvor die Medien pauschal von der Bühne her für ihre „nicht objektive und verzerrende“ Berichterstattung kritisiert.

Bevor er sich den Pressevertretern stellt, bittet er sich aus, dass keine „aggressiven Fragen“ gestellt werden. Zuvor hatten die teilnehmenden Journalisten eine Erklärung unterschreiben sollen, auf der ihnen die Aufgabe der Presse erklärt wurde.
Wie es zur Pressefreiheit und der geforderten „unabhängigen Berichterstattung“ passt, unangenehme Fragen zu untersagen, erklärt Ballweg nicht.
Weitgehend friedlich
Die Veranstaltung in Stuttgart verlief weitgehend friedlich. Die Teilnehmer hielten laut Polizei die Abstandsregeln weitgehend ein. Teuer wird die Veranstaltung für 25 Personen, die bei der Anreise in öffentlichen Verkehrsmitteln Mund- und Nasenschutz verweigerten und 300 Euro Bußgeld bezahlen müssen. Mehrere Vorfälle gab es außerhalb des Wasengeländes: Vor Beginn der Demo wurden drei Menschen laut Politzei bei einem Angriff von Unbekannten mutmaßlich aus dem linken Spektrum leicht verletzt. Aus einer Gruppe von Gegendemonstranten wurden Gegenstände auf Demonstrationsteilnehmer geworfen, zudem wurden in der Nähe der Veranstaltung an mehreren Autos Reifen zerstochen. In der Nacht zuvor hatte es mutmaßlich einen Brandanschlag auf drei Lkw mit Veranstaltungstechnik für die Demonstration gegeben. Die Polizei ermittelt. (uba)