João Silva verdingte sich viele Jahre als ungelernter Hilfsarbeiter auf Baustellen in Baden-Württemberg. Die meisten Berufskollegen des 45-jährigen Portugiesen, der in Wirklichkeit anders heißt, waren Landsleute. Deutschkenntnisse benötigte er für seine Arbeit kaum, sagen die Ermittler.
Nach einem gescheiterten Versuch 2018 nahm Silva drei Jahre später einen neuen Anlauf, um in der Schweiz beruflich Fuß zu fassen. Im Januar 2021 trat er eine neue Stelle als Bauarbeiter an.
Doch Mitte März 2021 erlitt Silva einen Arbeitsunfall und machte dabei eine für ihn erstaunliche Entdeckung, wie der Tages-Anzeiger berichtete: Solange ein Arzt attestiert, arbeitsunfähig zu sein, zahlt die Schweizer Unfallversicherung 80 Prozent des Gehalts als Taggelder.
Fast ein Jahr bis zu 11.000 Euro monatlich kassiert
Spätestens nach drei Monaten war Silva wieder vollständig genesen, davon sind die Ermittler überzeugt. Doch weil er „den Ärzten etwas vorgejammert“ habe, verlängerten diese seine Arbeitsunfähigkeit immer wieder – insgesamt auf über ein Jahr.
Damit nicht genug, heuerte der seit Monaten in der Schweiz krankgeschriebene 45-Jährige im Juni 2021 bei einer Liechtensteiner Zeitarbeitsfirma an, um auch dort am Bau zu arbeiten. Bereits an seinem ersten Arbeitstag im Fürstentum täuschte er laut den Strafverfolgern einen Arbeitsunfall vor.
Über zehn Monate erhielt Silva gleichzeitig Unfalltaggelder aus der Schweiz und aus Liechtenstein – bis zu 11.000 Franken monatlich.
Offenbar berauscht von den hohen Geldflüssen fürs Nichtstun, sprach er gezielt Landsleute in Deutschland an, insbesondere in Baden-Württemberg, Hessen und Rheinland-Pfalz. „Viele von ihnen träumten von einer Arbeit in der Schweiz, gerieten aber an den falschen Mann“, sagt ein Staatsanwalt aus St. Gallen.
Die dortigen Strafverfolgungsbehörden sind für die Ermittlungen zuständig, da der Hauptverdächtige Silva im Tatzeitraum seinen Wohnsitz in den Kanton St. Gallen nahe des Bodensees verlegte.
Aus prekären Verhältnissen zum Sozialversicherungsbetrug angereist
Den Ermittlern zufolge hatte der 45-Jährige seinen Landsleuten erzählt, sie müssten lediglich zu Arztterminen in die Schweiz reisen und könnten so mehrere 1000 Euro pro Monat verdienen. 12 Portugiesen, je ein Ire und Deutscher ließen sich für die Betrugsmasche anheuern, darunter Obdachlose, Suchtkranke und Sozialhilfebezüger. „Es war erschreckend zu sehen, dass sich diese Leute einspannen ließen, um in der Schweiz Sozialbetrug im großen Stil zu begehen“, schildert ein Staatsanwalt.
Ab hier legte sich Silva gehörig ins Zeug: Er erstellte für die angeworbenen Männer Lebensläufe mit erfundenen Arbeitsverhältnissen in Deutschland und Österreich. Und er richtete ihnen E-Mail-Adressen, Handynummern und mit ihrer Unterstützung sogar Bankkonten ein, behielt jedoch sämtliche Zugangsdaten und somit die Kontrolle.
Frisierte Bewerbungen und organisierte Unterkünfte
Daraufhin rief Silva bei mehr als einem Dutzend Zeitarbeitsfirmen an, ob sie Bauarbeiter brauchen könnten. Über die eingerichteten E-Mail-Adressen versandte er im Namen der Männer frisierte Bewerbungen an die Firmen. Die meisten von ihnen waren im Raum Zürich und St. Gallen ansässig. Sie beschäftigten Portugiesisch sprachige Mitarbeiter, was dem 45-Jährigen in die Hände spielte.
Er organisierte für die Angeworbenen kurzfristige Unterkünfte sowie Bus- und Zugfahrten aus Deutschland in die Schweiz, holte sie ab und brachte sie zu den Bewerbungsgesprächen und später zu den Arbeitsorten. 27 Mal kam es zu einer Anstellung.
Ärzte für Krankschreibungen gezielt ausgewählt
Silva wies die Angeworbenen jedoch an, bereits am ersten Arbeitstag nach nur wenigen Stunden einen überzeugenden Unfall vorzutäuschen. Die Bauarbeiter behaupteten, sich eine schwerwiegende Verletzung am Bewegungsapparat zugezogen zu haben. „Mit einem gestauchten Handgelenk oder lädiertem Knie kann man nicht als Schaler oder Eisenleger arbeiten“, sagt ein Staatsanwalt.
Nach den inszenierten Unfällen riefen die Simulanten jeweils den 45-Jährigen an, der sie in verschiedene Schweizer Krankenhäuser brachte. Dort fand die Erstversorgung statt, später gingen sie zu wechselnden Hausärztinnen und -ärzten. „Der Hauptbeschuldigte hatte verschiedene Mediziner als Favoriten, die er mit den vermeintlichen Patienten bevorzugt aufsuchte“, erklärt ein Ermittler.
Äußerte ein Arzt Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit der Simulanten, suchte Silva mit diesen umgehend einen andere Praxis auf.
Weitere Strafverfahren in Deutschland und Liechtenstein drohen
Nach der Krankschreibung wurde die gleiche Betrugsmasche mit liechtensteinischen Zeitarbeitsfirmen wiederholt. Zudem bezogen sechs der Simulanten während des Tatzeitraums Sozialhilfe in Deutschland. „Die Beschuldigten müssen damit rechnen, dass auch in Liechtenstein und Deutschland Strafverfahren gegen sie eröffnet werden“, sagt ein Staatsanwalt.
In der Folge reisten die Beschuldigten aus Deutschland nur für die Arzttermine in die Schweiz und nach Liechtenstein, ohne dort über einen Wohnsitz zu verfügen.
Zwar bekamen die verschiedenen Zeitarbeitsfirmen vereinzelt Bedenken, da die wiederholten Unfälle am ersten Arbeitstag auch für sie auffällig waren. Im Visier der Strafverfolger stehen aber weder die Zeitarbeitsfirmen noch die Ärzte.
Ermittler: „Nur die Spitze des Eisbergs“
Aufgeflogen war Silva, nachdem eine Person aus seinem näheren Bekanntenkreis im Frühjahr 2024 die Polizei auf die kriminellen Umtriebe aufmerksam gemacht hatte. Nähere Details dazu können die Strafverfolger nicht nennen.
Silva ergaunerte für sich und seine Mittäter rund 700.000 Euro Taggelder von den betroffenen Unfallversicherungen. „Das ist wahrscheinlich nur die Spitze des Eisbergs“, sagt ein Ermittler, der von weiteren Betrügereien im Schweizer Sozialsystem ausgeht.
Die Komplizen erhielten vom Hauptbeschuldigten monatlich Beträge zwischen etwa 900 und 2000 Euro. „Wir haben aber auch Beschuldigte, die keinen einzigen Euro vom 45-Jährigen erhalten haben“, sagt ein Staatsanwalt. Da diese Personen jedoch bei der Erschleichung von mehreren 10.000 Euro mitgewirkt hatten, wurden auch sie im Ausland verhaftet und an die Schweiz ausgeliefert.
Ende Juni werden die 15 Beschuldigten angeklagt
Silva ist geständig und befindet sich im vorzeitigen Strafvollzug. „Er hat alle seine Mittäter ans Messer geliefert und dadurch dazu beigetragen, dass wir den Fall umfassend klären konnten“, sagt ein Ermittler. Elf Beschuldigte wurden von Deutschland in die Schweiz ausgeliefert und kamen nach der Untersuchungshaft wieder frei. Auch sie sind geständig.
Ende Juni wird die Staatsanwaltschaft St. Gallen beim Kreisgericht Rheintal in Altstätten Anklage gegen die 15 Beschuldigten erheben. Dem 45-jährigen Haupttäter João Silva droht eine Gefängnisstrafe von mehreren Jahren. Für seine Mittäter werden bedingte Freiheitsstrafen von 9 bis 16 Monaten beantragt. Zudem sollen alle Beschuldigten für 6 bis 10 Jahre aus der Schweiz verwiesen werden.