Das Boulevardblatt „Blick“ jubelt, bezeichnet die Pandemie gar als „überwunden“. Anlass zum Feiern: Die Schweiz ist in einer von der Nachrichtenagentur Bloomberg erstellten Rangliste nach Norwegen das zweiterfolgreichste Land im Umgang mit der Pandemie. Maßstäbe waren unter anderem die Infektions- und Todeszahlen, die Impfquoten, aber auch wirtschaftliche und soziale Faktoren: So floss in die Bewertung auch mit ein, wie einkaufsfreudig die Bevölkerung ist, ob Menschen wieder zur Arbeit fahren und ob Flüge wieder regelmäßig buchbar sind.

Wirtschaftsexperte lobt die Schweiz

Fazit laut dem Niederländer Jan-Egbert Sturm, Professor für Angewandte Wirtschaftsforschung an der Universität ETH in Zürich: „Die Schweiz hat es in der ersten Welle sehr gut gemacht“, sagt er dem SÜDKURIER. Die Fallzahlen seien im Vergleich zu anderen Ländern nicht viel höher gewesen, obwohl die Schweiz nicht am strengsten gegen das Virus vorgegangen sei. Sturm sagt aber auch, die Schweiz habe bei der zweiten Welle im Herbst und Winter nicht schnell genug reagiert. Das Ausmaß der zweiten Welle hätte bei früherem Eingreifen geringer ausfallen können.

Trotz der hohen Infektionszahlen schlug die Schweiz schon früh einen Lockerungskurs ein. So blieben die Schulen im aktuellen Schuljahr durchgehend geöffnet. Die frühen Lockerungen im Frühjahr, die vor allem das Gastgewerbe und einige Dienstleistungen betrafen, sieht Sturm aber nicht als maßgeblich für den wirtschaftlichen Aufschwung in der Schweiz. Vielmehr seien die großen Wirtschaftszweige der Schweiz von den Maßnahmen weniger betroffen gewesen – die Pharmaindustrie etwa, das Bankenwesen und Versicherungen.

Sturm gibt zu bedenken, dass anders als bei der Finanzkrise nach dieser Krise die finanziellen Mittel bei den Bürgern vorhanden gewesen seien. Durch die Einschränkungen im Alltag waren sie zuvor zum Sparen gezwungen. „Das ist der große Unterschied zu anderen Krisen: Die Nachfrage war sofort da. Wir haben nun eher das umgekehrte Problem, dass die Wirtschaft die Lieferketten nicht wieder so schnell in Gang bringen kann“, erklärt der Experte.

Öffnungsstrategie nicht nur von Inzidenzen abhängig

Ein maßgeblicher Unterschied dürfte auch sein, dass der Bundesrat seine Öffnungsschritte nicht nur von Inzidenzen abhängig machte, sondern anderen Faktoren wie den Krankenhauseinlieferungen, die Intensivbettenauslastung, die Reproduktionszahl, also wie viele Menschen ein Infizierter ansteckt, sowie die Todeszahlen. Seit Ende Juni dürfen Diskotheken wieder öffnen – allerdings nur mit Covid-Zertifikat. Zudem sind Großveranstaltungen wieder möglich – auch ohne Nachweise.

Andreas Cerny ist Epidemiologe
Andreas Cerny ist Epidemiologe | Bild: Andreas Cerny

Doch kommt der Jubel zu früh? Andreas Cerny ist Infektiologe und Direktor des Epatocentro Tecino in Lugano. Er sieht die Bestenliste skeptisch. Dem SÜDKURIER sagt er: „Die einzelnen Länder erleben im Zeitverlauf ein rasches Auf und Ab, da das Infektionsgeschehen bei Covid-19 in Wellen verläuft.“ Die meisten der Kriterien der Rangliste würden demnach „durch den lokalen Epidemieverlauf beeinflusst“.

Virologe warnt vor Delta-Ausbreitung

Die Schweiz stehe im Moment noch „recht gut da, weil wir (noch) nicht sehr hohe Fallzahlen haben“. Er ergänzt, dass solche Rankings neben den Fluktuationen auch „andere Probleme wie die Gewichtung des Schutzes der Bevölkerung im Vergleich zum Schutz der Wirtschaftskraft und Bewegungsfreiheit des Einzelnen“ aufwiesen. Die Länder seien zu unterschiedlich, um sie mit solchen Schablonen zu vergleichen, so Cerny.

Dass die Schweiz bei den Infektionszahlen recht gut dasteht, dürfte nicht so bleiben, fürchtet Cerny. Die Virusvariante Delta sorgt auch in der Schweiz zunehmend für Neuinfektionen, seit Anfang Juli ist der 7-Tage-Schnitt der Neuinfektion wieder leicht gestiegen. Der Inzidenz liegt derzeit bei rund 60, ist also etwa dreimal so hoch wie in Deutschland.

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Hinzu kommt: Die Impfbereitschaft der Schweizer scheint stark abzunehmen. So ist die Zahl der Impfungen im Vergleich zur Vorwoche um knapp 37 Prozent zurückgegangen. Nach Angaben des Bundesamts für Gesundheit (BAG) sind bislang etwas mehr als 48 Prozent der Schweizer vollständig geimpft. In Deutschland sind es 53,6 Prozent.

Infektiologe sieht Lockerungen als Grund für mehr Corona-Fälle

Cerny führt die steigenden Zahlen auf manche der Lockerungen zurück. „Ich vermute, dass die Lockerung der Maskenpflicht, die Reisetätigkeit und die privaten Treffen bis zu 30 Personen nebst den Großveranstaltungen und Diskotheken zur Zunahme der Fallzahlen beitragen.“ Dafür spricht, dass vor allem Jugendliche und junge Erwachsene von den Neuinfektionen betroffen sind. Der 64-Jährige sagt: „Die Fallzahlen und Krankenhauseinlieferungen nehmen zu.“

Die Entwicklung sieht er mit Sorge: „Wir bereiten uns wieder vor“, sagt er und meint mögliche Krankenhauseinlieferungen. Doch bislang zögert der Bundesrat, neue Maßnahmen zu verhängen. Cerny würde etwas anderes raten: „Aus epidemiologischer Sicht wäre es schon sinnvoll, zöge man jetzt schon die Schrauben an, bevor man wieder hohe Fallzahlen hat“ und die Notfallstationen der Kliniken wieder überlastet würden. Zudem stehe „die Rückkehr vieler Schweizer aus Feriengebieten mit hohen Ansteckungszahlen in den nächsten Wochen bevor.“

Ähnliche Entwicklung wie im vergangenen Sommer

Schon einmal befand sich die Schweiz wie auch der Rest Europas in dieser Lage: Im vergangenen Sommer nahmen die Zahlen langsam, aber stetig wieder zu – bis es im Herbst zu starken Anstiegen kam und überall scharfe Maßnahmen beschlossen wurden. Vieles hänge von der Impfbereitschaft ab. „Wenn wir Glück haben, fleißig impfen und die einfachen Maßnahmen, die wir gelernt haben, weiter beachten, bleiben die Opferzahlen über Herbst und Winter hoffentlich in geringerem Ausmaß“, sagt Cerny.

Der Schweizer Bundesrat hat bereits erste Szenarien für den Herbst durchgespielt.

Die den Bundesrat beratende Covid-Taskforce der Schweiz geht indes davon aus, dass Corona endemisch werden wird – die Menschheit also nicht mehr verlassen, aber ähnlich wie die Grippe auch nicht mehr in großem Maße zu schweren Krankheitsverläufen führen wird. Was die Taskforce nicht zu bestimmen wagte: wann es soweit sein wird.