Rund 50.000 Menschen sind am Montagabend in Baden-Württemberg laut Innenminister Thomas Strobl (CDU) auf die Straße gegangen, um gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen zu protestieren – deutlich mehr als bisher angenommen. „Das Demonstrationsgeschehen ist ein sehr, sehr großes“, räumte Strobl am Dienstag ein.
Absoluter Demo-Hotspot in der Bodensee-Region ist Ravensburg, wo sich seit 20. Dezember trotz verhängtem Versammlungsverbots durch die Stadt mehrere Tausend Menschen ein Katz- und Mausspiel mit der Polizei lieferten. Doch am Montagabend blieb es dort bis auf einige wenige Kleingruppen, die zehn Platzverweise, sieben Bußgelder und eine Strafanzeige erhielten, verhältnismäßig ruhig. Grund dafür war, dass die Polizei mit hunderten Beamten, Motorrad-, Pferde- und Hundestaffeln fast an jeder Ecke der Innenstadt eine in Ravensburg selten dagewesene Präsenz zeigte.
„Aus Überzeugung hier“
Die Organisatoren der illegalen Demos bekamen davon Wind und riefen drei Stunden vor Veranstaltungsbeginn in einem Online-Netzwerk dazu auf, nach Friedrichshafen auszuweichen, wo laut Polizei schließlich 3000 Menschen zu einer unangemeldeten Demonstration zusammenkamen. „Das zeigt den enorm hohen Organisationsgrad. Jene, die behaupten, sie würden nur spazieren gehen, verlegen den Ort in kurzer Zeit und folgen dem“, sagt der Ravensburger Polizeipräsident Uwe Stürmer dem SÜDKURIER.

Aber wer sind die sogenannten Corona-“Spaziergänger“ und welche Ziele verfolgen sie? Der SÜDKURIER hat am Montagabend in Ravensburg versucht, mit einigen ins Gespräch zu kommen. Die meisten reagieren sehr zurückhaltend bis abwehrend, sie würden „mal gucken, was so geht“, seien aber auf Nachfrage „aus Überzeugung“ hier – einzelne von ihnen mit Kerze, Grablicht oder gar Lichterkette geschmückt. Nur einer war bereit, aus der Anonymität hervorzutreten: Der Ravensburger Hans-Georg Kübler.
„Sammelbecken an Unzufriedenen“
Er geht gegen die Corona-Maßnahmen spazieren, weil er entschieden gegen eine mögliche Impfpflicht ist. „Ich bin zwei Mal geimpft, will mich aber nicht alle drei Monate impfen lassen.“ Von der kurzfristigen Verlegung der Protestveranstaltung von Ravensburg nach Friedrichshafen hat er mangels Smartphone nichts mitbekommen. Während die meisten „Spaziergänger“ abrupt das Weite suchen, wenn sie damit konfrontiert werden, dass sie mit einer Versammlung trotz gültigen Verbots ein Bußgeld riskieren könnten, sagt Kübler: „Eine Strafe ist mir scheißegal.“
Für den Ravensburger Polizeipräsidenten Stürmer sind unter den Corona-“Spaziergängern“ sicherlich auch besorgte Menschen, die Angst hätten, gegen die Impfpflicht seien und sich artikulieren wollten. „Ich frage mich nur, warum sie dann Menschen hinterherlaufen, die ganz andere Ziele verfolgen“, sagt der oberste Polizist in den Landkreisen Bodensee, Ravensburg und Sigmaringen.
Stürmer spricht von einem „Sammelbecken an Unzufriedenen“ mit einem ganz eigenen Zugang zur Wahrheit, die alles besser wüssten als Fachleute, sowie „Agitatoren“, denen es um etwas ganz anderes gehe und offenbar Corona nur als Vehikel für ihre eigenen Zwecke benutzen.
Extremisten auch am Bodensee unter „Spaziergehern“
Laut dem baden-württembergischen Verfassungsschutz instrumentalisieren zahlreiche extremistische Gruppen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Impfgegner, Corona-Skeptiker, Politikverdrossene und Pandemie-“Verlierer“ würden dabei von Extremisten und Verschwörungsideologen gezielt adressiert und könnten sich radikalisieren, so die Befürchtung.
Nach Einschätzung des Landesamts für Verfassungsschutz Baden-Württemberg (LfV) beteiligen sich an den derzeitigen Protest-Veranstaltungen gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen weiterhin zu einem überwiegenden Teil Personen, die nicht den extremistischen Szenen zugeordnet werden können. Gleichzeitig stellt der Verfassungsschutz fest, dass dieser Personenkreis extremistische Narrative und Verschwörungsideologien aufgreift und verbreitet, was insbesondere auf den derzeit stattfindenden Versammlungen und in entsprechenden Telegram-Gruppen zu beobachten sei.
Dem Verfassungsschutz liegen Informationen vor, wonach auch auf Versammlungen in der Bodensee-Region Extremisten anwesend sind, die den Phänomenbereichen Reichsbürger und Selbstverwalter, „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ sowie dem Rechtsextremismus zugeordnet werden können. Um wie viele Extremisten es sich dabei handelt, dazu will die Behörde keine Angaben machen. Besonders unter diesen Gruppen lösen die staatlichen Corona-Maßnahmen jedoch starke Gegenreaktionen aus, wie ein Experte des Landesamts für Verfassungsschutz dem SÜDKURIER erklärt.

Teile der Coronagegner-Szene sehen sich in ihren Einschätzungen bestätigt, der Staat entwickle sich in Richtung einer Diktatur oder übe bereits diktatorische Gewalt aus. Nach wie vor würden szenebekannte Impfgegner Falschinformationen zu vermeintlichen Impftoten sowie zur Wirkung der verschiedenen Impfstoffe verbreiten, so der Verfassungsschutz.
Darüber hinaus werden vereinzelt hochgefährliche Methoden empfohlen, um die angeblichen Giftstoffe der Immunisierung wieder aus dem Körper auszuleiten: Geimpfte Kinder sollen demnach etwa Bleichmittel einnehmen – wovon Mediziner eindringlich abraten – um die als schädigend wahrgenommene Impfung rückgängig zu machen.
Aufruf zum Systemumsturz
Neben diesen Aufforderungen zur Gegenwehr sind dem Landesamt für Verfassungsschutz auch einzelne explizite Aufrufe zur Gewalt oder zum Systemumsturz durch Akteure rund um die Corona-Demonstrationen bekannt. Nach Einschätzung der Behörden können solche Aufrufe auf labile Personen motivierend wirken, wodurch Angriffe auf Impfzentren, wichtige Infrastruktur, staatliche Repräsentanten, Journalisten oder auf andere als „Verschwörer“ wahrgenommene Personengruppen nicht auszuschließen seien.

Gerade im gewaltorientierten Rechtsextremismus führen die staatlichen Maßnahmen gegen Corona vereinzelt zu stark beschleunigten Radikalisierungen. Bei ungeimpften Rechtsextremisten entstehe durch verschärfte Corona-Beschränkungen teilweise die Überzeugung, sich in einer vom Staat erzeugten, existenziellen Notlage zu befinden.
Dabei spielen extremistische Verschwörungsideologien eine entscheidende Rolle, nach denen die Corona-Pandemie als Maßnahme zur Bevölkerungsdezimierung einer Staats- oder Wirtschaftselite oder als weltumfassende Strategie zur Gleichschaltung mit menschenfeindlichem Hintergrund dargestellt wird.
Pandemie für Rassismus genutzt
In der „Tag X“-Verschwörungstheorie wird beispielsweise die Erwartung ausgedrückt, dass das politische System zusammenbreche und die Bevölkerung sich in weiten Teilen gegen das demokratische System ausspreche. Teilweise würden solche Szenarien mit Bürgerkriegsphantasien verknüpft, warnt der Verfassungsschutz. Die meisten Verschwörungsideologien transportieren neben staatsfeindlichen Inhalten auch antisemitische Narrative.
Die rechtsextremistische Identitäre Bewegung (IB) schürte in einem Online-Artikel Ängste vor staatlichen Maßnahmen und sprach dabei mehrfach von einer drohenden „Vernichtung“. Gleichzeitig kritisieren IB-Anhänger den Personaleinsatz der Polizei bei Corona-Demonstrationen.
Der Verfassungsschutz rechnet auch im Südwesten mit Aktionen dieser Gruppierung, nachdem diese bereits Kampagnen andernorts in Deutschland oder Österreich durchgeführt hat. IB-Gruppen zeigten dort etwa Banner mit einschlägigen Slogans, darunter „Heimatschutz statt Mundschutz“ oder „Kontrolliert die Grenze nicht euer Volk“, um ausländerfeindliche Inhalte in die Diskussion um die Pandemie-Eindämmung zu platzieren.
Links gegen Rechts bei Corona-Demo
Nehmen die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen weiter zu, gehen die Experten des Landesamts für Verfassungsschutz davon aus, dass auch die linksextremistischen Gegenproteste ansteigen. In diesem Zusammenhang könne es durch gewaltorientierte Linksextremisten zu Ausschreitungen und Angriffen gegen den „politischen Gegner“ sowie im Einsatz stehende Polizisten kommen. Zumindest in Teilen der linksextremen Szene werde die Annahme vertreten, dass der Einsatz von Gewalt gegen Personen auch künftig ein legitimes Mittel im als solchen empfundenen „antifaschistischen Kampf“ darstelle.
Dies wurde zuletzt vor allem durch einen linksextremistisch motivierten Angriff auf drei Männer aus dem rechten Spektrum bei einer „Querdenken“-Demonstration am 16. Mai 2020 in Stuttgart-Bad Cannstatt deutlich. Obwohl eines der Opfer dabei lebensgefährlich verletzt wurde, versuchte die Szene die Brutalität der Tat mehrfach öffentlich zu rechtfertigen, auch bei Kundgebungen. Die beiden Täter erhielten mehrjährige Haftstrafen.

Hausdurchsuchungen und Festnahmen
Und was tun die Behörden gegen Extremisten, die versuchen, die Pandemie für ihre Zwecke zu nutzen? „Diejenigen, die ihr eigenes Süppchen kochen, die Rechtsextremisten, Querdenker, Reichsverwalter, Verschwörungsideologen haben wir sehr genau im Blick“, sagt der zuständige Innenminister Strobl.
Das Landesamt für Verfassungsschutz habe bereits vor mehr als einem Jahr begonnen, die Querdenker-Bewegung zu beobachten, die sich von Ausschreitungen bei Corona-Demos jedoch distanziert habe. Und im Reichsbürger-Milieu fanden bereits im Dezember Hausdurchsuchungen und Festnahmen in Baden-Württemberg statt.