23 verletzte Polizisten, 18 ramponierte Streifenwagen, 37 geplünderte Läden. Nein, wir befinden uns nicht im Kriegsgebiet im mittleren Osten. Tatort: Stuttgart. Tatzeit: Samstagnacht. Motiv: Randalieren. Verdächtige: „Partyszene„.

Wie es zu den heftigen Ausschreitungen kommen konnte? Unklar. Welche Strafen drohen, steht noch aus. Fakt ist aber: Polizisten werden in ihrer Ausbildung auf solche Situationen eigentlich vorbereitet.

Unter anderem in der Fakultät I der Polizeihochschule Villingen-Schwenningen. Jürgen Renz leitet die Abteilung stellvertretend und steht selbst gern hinter dem Rednerpult. Er formt den Nachwuchs, sorgt dafür, dass die Sicherheitsbeamten wissen, was in Nächten wie diesen, zu tun ist.

Jürgen Renz bildet Polizeianwärter an der Polizeihochschule aus.
Jürgen Renz bildet Polizeianwärter an der Polizeihochschule aus. | Bild: Polizeihochschule Villingen-Schwenningen

„Bei zwei oder drei aufsässigen Männern ist es noch mit Ruhe, Mimik und Gestik“ zu handhaben, sagt der Fachgruppenleiter für Einsatzwissenschaften. Er nennt die wichtigste Regel „taktische Kommunikation“. Sobald sich andere einmischen, Gruppen bilden, Aggression in der Luft liegt, schrillen bei Polizisten die Alarmglocken. „Dann muss zwingend Verstärkung angefordert werden.“ So wie in Stuttgart, als eine Drogenkontrolle, Routine für Streifenpolizisten, von harmlos in brandgefährlich kippte.

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„In den allermeisten Fällen reicht es aus, wenn die Polizei mit einem Großaufgebot samt Hundeführer Präsenz zeigt“, sagt Renz. „Deeskalation durch Stärke“ heißt das im Fachjargon. Samstagnacht wurden diese Regeln außer Kraft gesetzt. Das Lehrbuch der Polizei wurde zur reinen Theorie.

Polizeieinheiten sammeln sich, um gegen die Stuttgarter Randalierer vorzugehen.
Polizeieinheiten sammeln sich, um gegen die Stuttgarter Randalierer vorzugehen. | Bild: Simon Adomat

Obwohl diese Situationen an Polizeihochschule Villingen-Schwenningen in Rollenspielen praktisch geübt werden. Von der Schlägerei vor der Disko, über den aggressiven Ehepartner, bis hin zu gewaltbereiten Fußballfans. Derzeit können wegen der Corona-Infektionsschutzmaßnahmen keine solchen Übungen stattfinden, heißt es auf Anfrage des SÜDKURIER: Die Polizisten würden derzeit ausschließlich digital vorbereitet.

Danach wird evaluiert. In der Gruppe. Wie im Unterricht. Nur ohne Schulnoten. Was war richtig? Was war falsch? Was hätte passieren können? Und vor allem: Was darf ich als Polizist eigentlich? Denn: „Das wichtigste ist, dass sie juristisch top drauf sind“, betont Dozent Jürgen Renz.

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Wer nicht sicher weiß, welche Kompetenz, welche Befugnis ein Polizist in bestimmten Situationen hat, versprüht förmlich Unsicherheit. Und die übertragt sich unweigerlich auf den Gegenüber, wie bei einer unvorbereiteten Präsentation vor Publikum. „Man kann das einfach irgendwie spüren“, sagt Renz.

Plötzlich entsteht ein Moment, in dem Beschuldigte glauben, einen Ausweg gefunden zu haben. „Dann wird häufig behauptet: ‚Das dürfen Sie nicht. Ich zeige Sie an.‘“ Wer sich davon beeinflussen lässt, läuft Gefahr, dass die Situation außer Kontrolle gerät.

„Es herrschte Krieg. Die Polizisten hatten einfach nur Angst“

Jürgen Renz kennt diese Momente. Er ist im Polizeipräsidium I, in Stuttgart, groß geworden, kontrollierte selbst Jugendliche und junge Erwachsene der „Partyszene„. Ja, es gab damals schon Menschen, die sich zusammenrotteten, um gegen die Polizei zu wettern, „aber was in dieser Nacht geschah, war außergewöhnlich. Es herrschten kriegsähnliche Zustände. Die Polizisten hatten einfach nur Angst“, berichteten ihm Kollegen aus Stuttgart, die vor Ort waren.

Die meisten von ihnen werden diese Nacht nie vergessen. So viel ist klar. Manche verarbeiten die Szenen allein, andere suchen das Gespräch mit ausgebildeten Kollegen. Bei der Polizei heißt das psychosoziale Beratung. Wenn sich herausstellt, dass das Trauma tiefer sitzt, kommt Verhaltenstherapeut Isaac Bermejo aus Freiburg ins Spiel.

Isaac Bermejo ist Diplom-Psychologe und Verhaltenstherapeut. Er ist seit 2015 Leiter des Supervisions- und Coachingdienstes für ...
Isaac Bermejo ist Diplom-Psychologe und Verhaltenstherapeut. Er ist seit 2015 Leiter des Supervisions- und Coachingdienstes für Beschäftigte am Universitätsklinikum Freiburg. | Bild: Universitätsklinikum Freiburg / Britt Schilling

Er bietet Supervisionen, Coachings, Dialoge und Gruppensitzungen an der Uniklinik Freiburg an. Der erste und wichtigste Schritt: „Man muss sich im Gespräch klar machen, dass diese Erfahrung jetzt zu meinem Leben gehört. Nicht darüber reden, kann schlimme Folgen haben“, sagt er. Denn vorbereiten auf Extremsituationen ist und bleibt unmöglich.

Trotzdem gibt Polizeidirektor Jürgen Renz alles, um seine Schützlinge optimal vorzubereiten. Damit er den Bezug zur Realität nicht verliert, gesellschaftliche Prozesse, Veränderungen, wechselnde Generationen und Stimmungen aufsaugt, ist er weiterhin als Polizist auf der Straße unterwegs.

Heute zum Beispiel gebe es eine völlig andere Protestkultur als noch vor einigen Jahren. Gerade die jungen Menschen seien wieder politisch aktiv und setzten sich für ihre Rechte ein. „Man dachte doch lange, dass sie nur im Internet sind und vor dem Smartphone abhängen. Aber das ist gar nicht der Fall. Erst kam Fridays for Future, dann Black Lives Matter. Sie sind aktiv – und das ist sehr gut so“, findet Renz.

Ist Stuttgart nur der Anfang?

Aber zeichnet sich da nicht eine bedenkliche Struktur ab? Wird aus einer politischen Bewegung, angetrieben von jungen Leuten, eine gewaltbereite Bewegung? Ist Stuttgart nur der Anfang? Jürgen Renz glaubt das nicht: „Diese Menschen aus der ‚Partyszene‚, die da am Samstag randalierten, haben mit denen, die auf Demonstrationen gehen und friedlich protestieren, überhaupt nichts zu tun.“

„Man kann sie keiner sozialen Gesellschaftsschicht zuordnen.“

Doch wer ist dann dieses ominöse „Partyvolk“? Jürgen Renz bezeichnet die Krawallmacher als bunt zusammengewürfelten Haufen. „Sie sind ganz schwer zu greifen. Man kann sie keiner sozialen Gesellschaftsschicht zuordnen.“ Vom Junkie bis zum Studenten sei alles dabei. „Wir haben mit ihnen schon lange Probleme. Nicht nur in Stuttgart. In allen Großstädten. Aber dass sie so aggressiv sind, ist neu.“

Deshalb müsse man sich künftig auf solche Tendenzen noch besser einstellen. „Man sollte jetzt einfach ausprobieren. Helfen Präventionsprogramme, oder kann man ihnen nur noch mit Platzverweisen und Alkoholverboten beikommen?“

Noch ermittelt die Polizei im Fall von Stuttgart. Einige Chaoten befinden sich bereits in Untersuchungshaft. „Jetzt ist erstmal Recht und Gesetz gefragt. Klare Kante zeigen, dass es so nicht weitergeht“, sagt Renz. Gewissermaßen Deeskalation durch Strafe.