Der Erfolg war ihm nicht in die politische Wiege gelegt. Dass Winfried Kretschmann zu einer beispiellosen Ikone der Grünen und zum bis heute einzigen Ministerpräsidenten seiner Partei in Deutschland werden würde, war zu seinem Amtsantritt am 12. Mai 2011 alles andere als sicher. Und schon gar nicht, dass er nun am 8. August 2025 den bisherigen Rekordhalter Erwin Teufel (CDU) als am längsten amtierenden Ministerpräsidenten im Südwesten überholt.

Teufel amtierte vom 22. Januar 1991 bis 19. April 2005, also 14 Jahre und knapp drei Monate. Seinen eigenen Rekord kommentierte Kretschmann, der zur Landtagswahl 2026 nicht mehr antritt, aber jüngst mit der ihm eigenen Art: „Bis die Fußnoten in den Geschichtsbüchern kommen, bin ich verfault in der Erde.“

Stil noch nicht herausgebildet

Vor dem Wahlsieg 2011 hatte sich der spätere präsidiale Kretschmann-Stil noch nicht herausgebildet. Der einstige Lehrer für Biologie, Ethik und Chemie, seit 1980 mit Unterbrechungen im Landtag und seit 2002 Grünen-Fraktionsvorsitzender, kam in den Jahren vor dem Einzug in die Villa Reitzenstein oft eigenwillig rüber, manchmal etwas verschroben – vor allem an hochfliegenden Berliner Ansprüchen gemessen.

Mit Kretschmann werde das nie was, sinnierte 2011 der damalige Chefkorrespondent der linksalternativen taz aus Berlin. Jener war eigens vor der Wahl nach Stuttgart gekommen, um den Oppositionspolitiker zu begutachten. Ein Vorgang, den taz-Autor Peter Unfried beim Empfang zu Kretschmanns 75. Geburtstag vor zwei Jahren zur allgemeinen Erheiterung offenbarte. Und was für ein Unterschied zu den vergangenen Jahren bis heute, in denen die bundesweiten Medienorgane nach Stuttgart pilgerten, um sich von Kretschmann die Welt erklären zu lassen.

Die eigenen Grünen im damals links dominierten Landesverband begutachteten ihren als konservativ geltenden Fraktionsvorsitzenden misstrauisch. „Der Alte muss weg“, war eine damals kursierende Redewendung. Doch waren sowohl Partei als auch Fraktion klug genug einzusehen, dass sie nur mit Winfried Kretschmann, der 1980 die Grünen mitgegründet hatte, eine Chance hatten. Sie umgaben ihn aber zur Sicherheit 2011 mit einem vierköpfigen Spitzenteam – mit dabei der heutige Grünen-Fraktionsvorsitzende Andreas Schwarz.

Der knappe Wahlsieg 2011 wurde befördert durch eine Fülle günstiger Umstände und nicht nur die Abnutzung der jahrzehntelang dominanten CDU. Da waren das Reaktorunglück von Fukushima, die Auseinandersetzungen um Stuttgart 21 sowie das robuste Regierungshandeln des CDU-Ministerpräsidenten Stefan Mappus. All dies brachte Kretschmann schließlich in das Amt, das sich als die Rolle seines Lebens erweisen sollte.

Winfried Kretschmann schwört 2011 im Landtag in Stuttgart nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg seinen Amtseid.
Winfried Kretschmann schwört 2011 im Landtag in Stuttgart nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg seinen Amtseid. | Bild: Uwe Anspach

Als Steigbügelhalter erwiesen sich damals die nur knapp hinter den Grünen gelandeten Sozialdemokraten. Sie waren aber ahnungslos, dass sie mit Kretschmann jemanden ins Amt hoben, der ihnen bald die Anhänger abspenstig machen sollte. Genauso ahnungslos waren 2011 die noch deutlich vor den Grünen liegenden Christdemokraten. Sie hatten bei der Landung in die Opposition zunächst an eine Art Betriebsunfall geglaubt. Bis sie registrierten, dass da ein grün gefärbter Konservativer die Villa Reitzenstein erobert hatte, der in ihrer Wählerklientel wilderte, war es zu spät.

Von der Stuttgarter Halbhöhenlage bis zu den Tälern von Schwarzwald, Neckar, Donau und Alb drang er in bürgerlich-konservative Wählerschichten ein. Der bekennende Katholik und Oberschwabe aus Sigmaringen, ab 2011 milde geformt vom damaligen Regierungssprecher und jetzigen Staatssekretär Rudi Hoogvliet, erwies sich als fast schon väterliche Identifikationsfigur für seine Landeskinder – emphatisch oder mit Humor, wenn es geboten war, und nie aus seinem Herzen eine Mördergrube machend. Geerdet war er auch durch seine bald nicht minder populäre Ehefrau Gerlinde.

Kretschmann fand seine Fans bei den Intellektuellen, die ihn als Bewunderer der Philosophin Hannah Arendt schätzten, bis hin zu jenen, denen der Ministerpräsident als Anhänger der traditionellen Fastnacht, des Froschkuttelessens von Riedlingen und als gläubig-kritischer Katholik imponierte. Andere zeigten sich beeindruckt vom offenen Umgang Kretschmanns mit seinen Irrungen junger Jahre, etwa seiner Mitgliedschaft im maoistischen „Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW)“.

Die erste Bewährungsprobe: Bau des Tiefbahnhofs Stuttgart 21

Mit dem Volksentscheid in Sachen Stuttgart 21, als die Mehrheit der Baden-Württemberger für den Bau des Tiefbahnhofs votierte, bestand Kretschmanns Pragmatismus die erste Bewährungsprobe. Die Grünen waren die schärfsten Gegner gewesen. Statt aber in die Schmollecke zu gehen, akzeptierten Kretschmann und sein Verkehrsminister Winfried Hermann das Ergebnis und verpassten dem verkorksten Milliardenprojekt Verbesserungen im Detail.

Kretschmanns Gestus als präsidialer Überministerpräsident entkoppelte ihn mit den Jahren von den Grünen. Diese machte es ihm leicht, denn er garantierte Macht, Ämter und Mandate. Vollends untertan wurden die Grünen ihm bei der Wahl 2016, als man mit Kretschmann die CDU überholte und mit der Union koalierte. 2021 ließ sich die zunächst widerstrebende Partei von ihrem Übervater die erneute Koalition mit den Christdemokraten diktieren.

Kretschmann hatte erkannt, dass er mit reiner Parteipolitik auf Dauer nicht regieren und die Grünen nicht mehrheitsfähig werden könnten – und geschweige denn bleiben. Sein Politikstil war auf weitgehenden Konsens und Kompromiss angelegt. Eine „Politik des Gehörtwerdens“ hieß die Zauberformel. Allzu großen Hoffnungen begegnete der Politiker aber mit dem Satz „Gehört werden heißt nicht immer erhört werden“.

Nichts konnte ihn schneller auf die Palme bringen als überschießendes grünes Selbstbewusstsein. Verärgert reagierte er deshalb im November 2021 auf Äußerungen der damaligen Grünen-Landesvorsitzenden Sandra Detzer, die nach der Bundestagswahl mit Blick auf die Koalitionsverhandlungen der werdenden Berliner Ampel sagte, nun würde grün „durchregiert“ und keine Kompromisse mehr gemacht. „Man muss immer Kompromisse machen“, verkündete er sein Credo.

Winfried und Gerlinde Kretschmann beim Landespresseball 2024 in Stuttgart.
Winfried und Gerlinde Kretschmann beim Landespresseball 2024 in Stuttgart. | Bild: Nico Pointer

Seinen tiefen Unwillen durchzuregieren, hatte Kretschmann schon in den 80er-Jahren bekundet. Es gehe darum, ökologische Ziele mit marktwirtschaftlichen Mitteln und einem Bündnis unterschiedlicher Gesellschaftsgruppen zu erreichen. „Bündnis- statt Klientelpartei“ nannte er dies nach der bitteren Niederlage der Grünen nach der Europawahl 2024. Und als die hochfliegenden Pläne der Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock bei der Bundestagswahl 2021 unsanft in der Realität landeten, reagierte er mit Schärfe. Wenn man regieren wolle, dürfe man eben nicht nur Politik für die eigenen Anhänger machen.

Immer mehr wurde er so zum Mahner in Richtung der eigenen Partei, an der er oft schier verzweifelte. Etwa beim Thema Migration. Hier sah er zu viel Naivität bei seinen Parteifreunden. „Es geht nicht darum, die Schotten dicht zu machen, wie manch einer mir gerne vorwirft. Aber uns muss als Gesellschaft klar sein: Humanität gibt es nur in der Ordnung. Ohne Ordnung herrscht das Recht des Stärkeren“, sagte er einmal in einem Interview mit dieser Redaktion.

„Klar sein in den Zielen, offen in den Wegen“, auch so ein geflügelter Kretschmann-Satz, gemünzt auf eine allzu rigide, wirtschaftsfeindliche und nach Ansicht Kretschmanns weltfremde Klimapolitik. Denn in den letzten Jahren der Kretschmann-Amtszeit hatte sich der Wind gedreht, Selbstverständlichkeiten wie eine boomende Wirtschaft und sprudelnde Steuereinnahmen, die ihm das Regieren lange Zeit erleichtert hatten, ließen plötzlich auch das wirtschaftlich so starke Baden-Württemberg in den Abgrund blicken. Worte wie De-Industrialisierung machten die Runde.

Kampf um den Wirtschaftsstandort Baden-Württemberg

Dem Kampf um den Wirtschaftsstandort Baden-Württemberg, gebeutelt durch Transformation, Corona und dann den Ukrainekrieg, gab der Ministerpräsident höchste Priorität. Fehleinschätzungen blieben nicht aus, so etwa beim Thema Corona, als er im Sommer 2021 für harte Grundrechtseingriffe plädierte und noch Ende 2021 an seinem Kurs der übergroßen Vorsicht festhalten wollte, als alle Zeichen schon auf Lockerung standen. Hier wie bei anderen Dingen fehlte ihm ein gelegentlich notwendiges Korrektiv in Gestalt eines selbstbewussten Grünen-Fraktionsvorsitzenden.

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Überhaupt war die Pflege des grünen Biotops nicht Kretschmanns Sache. Was auch dazu führte, dass ihm aus der grünen Landtagsfraktion kein geborener Nachfolgekandidat erwuchs. Nun soll der Berlin-Rückkehrer Cem Özdemir bei der Landtagswahl 2026 den Grünen die Macht erhalten. Dass aber auch CDU-Spitzenkandidat Manuel Hagel für sich in Anspruch nimmt, dass „bei uns das Erbe Kretschmanns in guten Händen ist“, ist noch etwas, das 2011 zu Beginn der Ära des Grünen Kretschmann als völlig undenkbar gegolten hätte.