Es ist die 27. Minute im Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft 1974. Holland führt seit der 1. Minute durch einen Elfmeter von Johan Neeskens mit 1:0, jetzt aber gibt es erneut Strafstoß. Schiedsrichter John Taylor hat nach einem Foul von Wim Jansen an Bernd Hölzenbein auf den Punkt gezeigt – oder war es doch eine Schwalbe des flugbegabten Frankfurters, auf die der englische Referee hereingefallen war, was auch heute noch gängige Meinung ist?

„Korrekter Elfmeter“

„Nein“, sagt Paul Breitner, „keine Schwalbe, klares Foul, korrekter Elfmeter.“ Breitner, der Mann, der stets anderer Meinung ist als die Mehrheit, einer der sein Leben lang gegen den Mainstream bürstet, er also weiß es einmal mehr besser? „Ich habe kürzlich Bilder dieser Szene gesehen, aufgenommen aus einem anderen, bisher unbekannten Winkel“, erzählt Breitner, „und da kann man nur sagen, der Holländer hat den Hölzenbein mit dem rechten Bein unterm Oberschenkel getroffen, ganz klarer Elfmeter also.“ Das hört man doch gerne, nicht wahr? Nichts als Geschwätz schlechter Verlierer, die holländischen Vorwürfe an die Adresse von Bernd Hölzenbein und John Taylor. Sei‘s drum.

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Nicht Gerd Müller, sondern Paul Breitner tritt an

Es gibt Elfmeter in dieser 27. Minute – und es ereignet sich Erstaunliches. Nicht wie allseits erwartet Gerd Müller schreitet zur Tat, sondern Paul Breitner schnappt sich den Ball. Der erinnert sich noch immer mit einem Schaudern. „Ich bin nicht zum Helden geboren, es war keine bewusste Handlung. Wie in Trance bin ich Richtung Eckfahne gelaufen, wo der Ball lag, habe ihn mir geschnappt und bin dann zum Punkt gegangen.“ Es musste so sein, denn tief drinnen im jungen Paul Breitner war in den Tagen vor dem Endspiel die Erkenntnis gereift, dass er die Verantwortung übernehmen müsse, wenn es denn einen Elfmeter geben sollte.

„Wir hatten die Elfmeterproblematik von Anfang an im Team, es schien manchmal so, als wären einige froh, wenn es keinen Elfmeter für uns geben würde. Dann hat der Uli (Hoeneß; die Red.) einen gegen Schweden verwandelt und den nächsten gegen Polen verschossen, der Gerd (Müller) hatte in der Bundesliga einige versemmelt, der Franz (Beckenbauer), das ging auch nicht. Also war klar für mich, du musst das tun.“

Der holländische Schlussmann ist chancenlos

Und so marschierte Breitner festen Trittes zum Elfmeterpunkt. Fernsehbilder zeigen Wolfgang Overath in angeregter Diskussion mit Gerd Müller, der mit den Schultern zuckt. „‘Ja schießt du denn jetzt?‘, hat mich der Overath gefragt“, erzählt Breitner, „und ich hab‘ geantwortet: Ja, den hau‘ ich jetzt rein.“ Breitner läuft an, schiebt den Ball von sich aus gesehen links unten ins Tor, der holländische Schlussmann Jan Jongbloed ist chancenlos.

„Ich habe nichts gefühlt“

Es mutet so einfach an, es sieht so lässig, so souverän aus, als der Ball im Netz zappelt, steckt Breitner die Hände senkrecht zum Himmel – und hat in diesem Augenblick nicht wirklich realisiert, was passiert ist. „Ich habe nichts gesehen, nicht die Spieler, nicht die Zuschauer, habe nichts gehört vom Lärm der 80.000 im Olympiastadion, habe nicht an Schlagzeilen gedacht oder an die Milliarde Zuschauer am Fernsehen oder gar an Auswirkungen für die Zukunft“, beschreibt Paul Breitner seinen Solo-Auftritt, „ich habe nichts gefühlt.“ Kalt wie ein Fisch war der Mann in dieser 27. Minute, Breitner selbst nennt es „einen Elfmeter absoluter Konzentration“.

Paul Breitner rettet auf der Linie

Die Fähigkeit, in wichtigen Situationen alles ausblenden zu können, was hinderlich sein könnte, hatte der 21-Jährige schon in ganz jungen Jahren. Breitner: „So hatte ich das auch schon in der Schule gemacht bei wichtigen Prüfungen.“ Gerd Müller erzielt das 2:1, Sepp Maier hält in der zweiten Halbzeit großartig, Franz Beckenbauer ist der Turm in der Schlacht – und Paul Breitner selbst rettet den Sieg, als er gegen Jonny Rep auf der Linie rettet. „Es war einer der fünf Kopfbälle in meiner Karriere“, sagt Breitner und schmunzelt, „ich wusste gar nicht, dass ich so hoch springen kann.“ Er konnte. Gut so.