Mann, war das eine Nacht. 29. April 1972, Wembleystadion in London. Deutschland besiegt England auf der Insel 3:1, aber nicht nur das. Es ist das größte Spiel einer Mannschaft, die bis heute als das spielerisch beste deutsche Nationalteam gilt. Franz Beckenbauer und Günter Netzer waren die Anführer, Libero der eine, Regisseur im Mittelfeld der andere, ein Wechselspiel ihrer Positionen hatten sie erfunden, das die Fußballexperten Rambazamba-Fußball nannten.

Overath oder Netzer?

Beckenbauer und Netzer und das DFB-Team, schöner als auf dem Weg bis hin zum EM-Titel ging‘s nicht. Zwei Jahre später. Die deutsche Elf hatte ihre beiden Auftaktspiele der Weltmeisterschaft gewonnen, 1:0 gegen Chile, 3:0 gegen Australien. Aber sie hatte nicht überzeugt – und einer von vielen Konflikten, der im Hintergrund schwelte, war die Frage: Overath oder Netzer? Klar, der Kölner Spielmacher war fit, hatte gegen Chile nicht schlechter als die anderen und gegen Australien hervorragend agiert. Klar, der 1973 von Borussia Mönchengladbach zu Real Madrid gewechselte Spielmacher hatte konditionelle Defizite und schon in den WM-Vorbereitungsspielen nicht überzeugt.

Fans forderten lautstark Netzer

Aber das Fußballvolk liebte den langen Blonden. Und so forderte es ihn am 22. Juni 1974 im Hamburger Volksparkstadion auch lautstark, als es nicht lief im Spiel der Spiele gegen die DDR. Nach 69 Minuten, Stand 0:0, gab Bundestrainer Helmut Schön nach, holte Wolfgang Overath vom Platz und schickte Günter Netzer für ihn aufs Feld. Der Aufschwung für die deutsche Mannschaft? Die Wende für Netzer bei dieser WM? Es kam anders und keiner hatte es besser gewusst als Netzer selbst. „Ich wollte eigentlich gar nicht eingewechselt werden“, erinnert er sich, „das Spiel lief nicht, ich war auch noch nicht im Vollbesitz meiner Kräfte.“

„Über meinen Beitrag in diesem Spiel möchte ich lieber schweigen“

Günter Netzer redet nicht gerne über diesen Abend, dieses Spiel, in dem neun Minuten nach seiner Einwechslung der Magdeburger Jürgen Sparwasser das 1:0 für die DDR erzielte und damit den Sieg des Außenseiters sicherstellte. „Über meinen Beitrag in diesem Spiel möchte ich lieber schweigen“, formuliert Netzer seine Distanz zu jenem Ereignis, das sein endgültiges WM-Aus markierte. Interessant ist in diesem Zusammenhang denn noch, dass sein ausgewechselter Konkurrent Wolfgang Overath Schlimmstes für seine eigenen WM-Chancen befürchtete. „Stell‘ Dir nur mal vor, es gibt einen Freistoß für uns und der Günter tut den rein“, blickt Overath zurück, „dann komm‘ ich doch erstmal gar nicht mehr rein in die Mannschaft.“

Die Niederlage war ein Weckruf

Es gab übrigens tatsächlich einen Freistoß, den Netzer schoss, aber er traf nicht ins Tor. Die Niederlage gegen die DDR schien das Unternehmen WM-Titel ins Wanken zu bringen – im Nachhinein darf man anderes behaupten: Das 0:1 war ein Weckruf, ohne den es nichts geworden wäre mit dem Triumph am Ende. „Es war ein großer Scherbenhaufen“, weiß Günter Netzer – und lobt Franz Beckenbauer. Der „Glücksfall für den deutschen Fußball“ habe das Team umgebaut und sich ansonsten vor den in die Kritik geratenen Bundestrainer Schön gestellt. In der „neuen“ Elf war kein Platz mehr für Netzer, der das mit der ihm eigenen Souveränität kommentiert: „Das war folgerichtig und zeigt, wie viel Franz schon damals vom Fußball verstand.“

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Netzer fühlte sich nicht als Weltmeister

Günter Netzer, der nach dem 22. Juni 1974 gerade mal noch zwei Länderspiele bestritt (das 37. und letzte am 11. Oktober 1975 beim 1:1 gegen Griechenland), fühlt sich nicht wirklich als Weltmeister. „Wer das behauptet, der beleidigt mich“, sagt er. Weil das eine Frage der Ehre ist für einen großen Fußballer: Ein Titel, zu dem man nichts beitragen konnte, ist kein wahrer Erfolg. Wolfgang Overath hätte das mit Sicherheit nicht anders formuliert, wenn es seinerzeit nach dem 22. Juni 1974 anders gekommen wäre. So aber konnte der seiner Bestimmung nachgehen: „Ich war 1966 Zweiter und 1970 Dritter, jetzt musste ich einfach Erster werden.“