Der Weg in die Hölle war von Übelkeit begleitet. Schulter an Schulter und doch einsamer als je zuvor saßen die Männer in ihren schaukelnden Landungsbooten, kaum einer, der sich nicht übergeben musste, während Salzwasser auf die Stahlhelme prasselte und die hohen Wellen gegen die Boote schwappten.
„Mir war egal, ob ich erschossen werde oder nicht, ich wollte nur runter vom Landungsboot und wieder festen Boden unter den Füßen spüren“, erinnerte sich der Kriegsveteran Robert Coupe aus dem englischen Blackpool vor wenigen Jahren. Es war kalt, miserables Wetter trotz Anfang Juni. Und als der Morgen graute, sah der damals 19-Jährige plötzlich Schwärme von Booten wie das seine, die sich langsam der französischen Küste näherten.
Über den Soldaten Bombergeschwader, vor ihnen die Sanddünen, die Klippen und die Einschläge der Schiffsgeschütze, die deutsche Befestigungsanlagen beschossen. In einem anderen britischen Landungsboot, so erzählen es Soldaten später, versuchte ein Befehlshaber, mit Shakespeares „Heinrich V.“ die Truppen zu motivieren: „Und Edelleut‘ in England, jetzt im Bett, Verfluchen einst, dass sie nicht hier gewesen.“
Die letzten langen Meter wateten die Soldaten durchs kalte Wasser, bis zur Achselhöhle reichte es Robert Coupe, dessen Einheit bei der Schlacht um Caen zum Einsatz kam. Unzählige sollten jedoch nie lebend den Strand erreichen. Es wurde so viel geschossen und gebombt, dass kaum noch jemand erkannte, aus welcher Richtung die Granaten und Kugeln kamen. „Sehr beängstigend, sehr beängstigend“, sagte später einer der britischen Soldaten. Gleichwohl habe ein Gefühl von Aufregung geherrscht, „mit einem Knoten im Magen“. Die Männer wussten, dass sie Geschichte schrieben.
Start der Operation Overlord
Es war der 6. Juni 1944 und mit diesem Morgen wurde der Beginn des Endes des Zweiten Weltkriegs eingeläutet. So jedenfalls bezeichnet die Öffentlichkeit im Königreich gerne diesen historisch besonderen Tag, als mehr als 155 000 alliierte Soldaten in der Normandie landeten. Mit dem D-Day startete die Operation Overlord, durch die die Anti-Hitler-Koalition unter Federführung der USA und Großbritannien eine Westfront eröffnete.
Seitdem sind 75 Jahre vergangen, und das Gedenken an die dramatischen Ereignisse nimmt seinen Lauf. Zum Jahrestag am heutigen Donnerstag reisen Politiker aus vielen Staaten in die Normandie – aber anders als vor fünf Jahren fehlen Angela Merkel und der russische Präsident Wladimir Putin.
Das ist umso überraschender, da Präsident Emmanuel Macron wie sein Vorgänger François Hollande historische Jahrestage gerne für prunkvolle Zeremonien nutzt, in denen er die Bedeutung des Friedens und der europäischen Einheit betont. An der Seite der britischen Noch-Regierungschefin Theresa May will er den Grundstein für ein britisches Erinnerungsmahnmal legen.
Auch Franzosen waren dabei
Mit US-Präsident Donald Trump besucht Macron eine Zeremonie auf dem amerikanischen Friedhof in Colleville-sur-Mer. Zur internationalen Feier im Abschnitt Juno Beach, wo 1944 mehr als 20 000 kanadische Soldaten landeten, kommt statt Macron Premierminister Édouard Philippe. Der Präsident selbst nimmt an einer Hommage für 177 getötete Soldaten der Kommandoeinheit der Freien Französischen Marine teil.
So mutig diese auch gewesen seien, so handele es sich bei dieser besonderen Ehre für 177 Franzosen angesichts der 150 000 Soldaten aus aller Welt, die in der Normandie kämpften, um eine „Verzerrung der Ereignisse“, sagt der französische Historiker Olivier Wieviorka, Autor eines Buches zum Thema. Wieviorka zufolge werde die Rolle der französischen Résistance oft überbetont: Zumindest aus militärischer Sicht sei sie minimal gewesen – sie beschleunigte die Befreiung, entschied aber nicht über den Krieg.
Erklären lässt sich dies Wieviorka zufolge mit der französischen Erinnerungskultur, in der die Operation Overlord überwiegend positiv bewertet werde: „Die Landung steht für die Franzosen für den Beginn der Befreiung ihres Landes von der Nazi-Besatzung und ist im kollektiven Gedächtnis stärker verankert als das Ende des Krieges.“ Einen Anteil daran habe auch die spannungsreiche Dramaturgie der Ereignisse – die Faszination für die modernen technologischen Mittel, die eingesetzt wurden, für die ankommenden Helden, die Erfolge der Agenten.
Das Narrativ, mit den Amerikanern die Befreier Europas zu sein, wird derweil gerne im Königreich genutzt. So laufen schon seit Wochen die Vorbereitungen für den D-Day, es werden historische Ereignisse nachgespielt. Für die Briten ist der D-Day das wohl bestimmende Event des Zweiten Weltkriegs, „das Schlüsselereignis“, so Historiker Toby Haggith. Das liege nicht nur daran, dass die Operation extrem gut und mit langem Vorlauf geplant wurde.
Nach dem Scheitern der Briten in der Schlacht von Dünkirchen 1940 eröffnete der D-Day die Möglichkeit, Rache zu üben und sich zu rehabilitieren. Dabei achteten die Bündnispartner genau darauf, dass die Invasion, die angesichts des schieren Ausmaßes „niemals kein Erfolg werden konnte“, so genau gefilmt und fotografiert wurde wie keine Schlacht zuvor.
„Hier wurde ganz bewusst Geschichte geschrieben“, sagt Haggith. Hinzu komme, dass der D-Day politisch betrachtet „eine sauber zu erzählende Story“ war und Optimismus verbreitete. „Der D-Day wurde auch deshalb zum Fokus der westlichen historischen Erinnerung“, so Haggith. Erst später sei die Bedeutung der Sowjetunion anerkannt worden. Auch wenn die Westfront bedeutend war, sei die Wehrmacht eben doch durch die Niederlage an der Ostfront zerstört worden.
Haggith wird selbst diese Woche in Portsmouth sein, gibt aber zu, dass der Wirbel um den Jahrestag zu einem „merkwürdigen Zeitpunkt“ komme. Das Königreich steckt im Drama um den Ausstieg aus der EU. Und viele Brexit-Gegner verweisen gerne darauf, dass die Europäische Union eben genau das sei, wofür die Alliierten am D-Day im Grunde gekämpft hätten. Die Briten trugen bei dieser Operation, die auf internationalen Zusammenhalt setzte, maßgeblich dazu bei, den Weg zu einer späteren Staatengemeinschaft zu ebnen. „Nun kehren wir in gewisser Weise dem Kontinent den Rücken zu.“
Bei den Franzosen gibt es laut Wieviorka bei allem Lob zwei Einschränkungen: Die Kritik des späteren Präsidenten Charles de Gaulle, damals Chef der Freien Französischen Streitkräfte, an der mangelnden Einbeziehung der Résistance, sowie das Leid der Menschen vor Ort. Während der wochenlangen Kämpfe verloren 13 600 Zivilisten ihr Leben. Die Stadt Caen wurde zu 80 Prozent zerstört.
Die alten Bunker stehen noch
Bis heute sind die Spuren der Landungen an der französischen Nordküste sichtbar. Entlang des Atlantikwalls, der von den deutschen Besatzern und Zwangsarbeitern erbauten waffenstarrenden Verteidigungslinie, stehen Überreste deutscher Bunkerbefestigungen. Teile der künstlichen US-Hafenanlagen aus Beton ragen noch immer aus dem Meer, über die damals zehntausende Soldaten, Fahrzeuge und Nachschubgüter an Land gebracht wurden. Auf Militärfriedhöfen erinnern lange Reihen von überwiegend weißen Kreuzen an die rund 200 000 hier getöteten Soldaten; schwarz sind sie nur auf den deutschen Soldatenfriedhöfen. Allein 15 Museen in der Region zeichnen die Einzelheiten der Schlacht nach.
Lag der Akzent beim Gedenken zunächst auf der Verherrlichung der Soldaten als Helden, richtet sich der Blick Olivier Wieviorka zufolge heute auf das Schicksal der Zivilbevölkerung. „Lange galt es wohl als unpassend zu beschreiben, dass die Alliierten, denen Frankreich die Befreiung verdankt, auch Tod und Zerstörung säten.“
Bis 1984 habe das britische und das US-Militär das Gedenken organisiert. Erst dann machte der damalige Präsident François Mitterrand staatliche Feierlichkeiten daraus, zu denen er andere Staats- und Regierungschefs einlud. „Er betonte nicht mehr die Idee des Sieges“, so Wieviorka, „sondern verknüpfte es mit einer Botschaft des Friedens, der Versöhnung und des europäischen Aufbaus.“
Schon gewusst?
Die Bezeichnung D-Day wurde nicht erst 1944 für die alliierte „Operation Overlord“ erfunden, sondern es gab sie bereits im Ersten Weltkrieg 1918. Damals bezeichnete sie den Tag des alliierten Angriffs auf den Frontvorsprung bei St. Mihiel in Lothringen. Es war die erste selbstständige Operation des US-Expeditionskorps in diesem Krieg. Was hinter dem „D“ von D-Day steht, ist offen. Man spricht von „Decision“ (Entscheidung), „Departure“ (Ankunft) oder „Delivery“ (Lieferung). Im Deutschen sagt man „Tag X“. (mic)