Nach Kriegsbeginn in die Pleite? Christian Steidinger in St. Georgen im Schwarzwald wäre das im August 1914 beinahe passiert. Bis dahin sind seine hochglanzvernickelten Federmotoren zum Antrieb von Grammophonen heiß begehrt. Hinzu kommen filigrane Zubehörteile wie der mit grünem Tuch bezogene Plattenteller „Hydra“, die Regulierschraube „Royal“ oder der Tabulator „Kismet“, mit der man das Tempo des Laufwerks „Berolina“ sanft regulieren kann. Bis nach Moskau und St. Petersburg liefert der 80-Mann-Betrieb seine Qualitätsware.

Dann kommt die Politik dazwischen. Russland macht mobil, Deutschland erklärt dem Zarenreich den Krieg, und Christian Steidinger muss 52 000 Reichsmark für schon gelieferte aber noch nicht bezahlte Ware abschreiben.
Da sich der Bedarf an Grammophonen mit Kriegsbeginn in Luft auflöst, bleibt dem Firmenchef nichts anderes übrig, als die Lücke durch Aufträge für das Militär möglichst zu schließen.
Gewinde für Hufeisen
Wie viele andere Firmen in der Region – etwa die der Schwarzwälder Uhrenindustrie mit ihrem besonderen Talent für Feinmechanik – musste Christian Steidinger im Herbst 1914 beweisen, dass er Armeebedarf decken konnte. „Dazu gehörten Hufstollen mit Gewinde, die an Pferdehufeisen montiert wurden“, erzählt Jürgen Weisser vom Deutschen Phonomuseum in St. Georgen. „Und es wurden Ladestreifen für den Armee-Karabiner gefertigt.“

Auch Christian Steidingers Bruder Josef, der 1912 seine eigene Firma „Perpetuum“ gegründet hatte, war auf Militäraufträge angewiesen. Grammophon-Laufwerke wurden kaum noch benötigt, dafür umso mehr Dreh- und Stanzteile für Granatzünder. Die Umstellung der Produktion war keine leichte Aufgabe. Die Mobilmachung fegte die Werkhallen leer, nur die angestellten weiblichen Arbeitskräfte, die Älteren und die Meister blieben zurück.

Je länger der Krieg dauerte, desto knapper wurden die Rohstoffe, und es wurde für die Betriebe immer schwieriger, die Vorgaben der kriegswirtschaftlichen Ämter zu erfüllen. Zugleich zwangen die hohen Stückzahlen zur Vergrößerung der Fertigung, und es mussten Neubauten hochgezogen werden.
Tod des Firmenerben
Zu diesen Herausforderungen kamen Schicksalschläge. Christian Steidingers ältester Sohn Alfred fiel 1916 an der Front vor Verdun. Er hätte einmal die kaufmännische Leitung der Firma übernehmen sollen. Der Krieg ging im Herbst 1918 verloren und für die Betriebe kamen neue Zeiten.

Im November 1918 erreicht die Revolution den Schwarzwald und St. Georgen. Der Arbeiter- und Soldatenrat, der sich auch hier gebildet hat, will bei Steidinger in die Geschäfte eingreifen, doch der Unternehmer kann den Konflikt abwenden. Nachdem Anfang 1919 die ersten Soldaten von der Front an die Werkbänke zurückgekehrt sind, kann die Fertigung von Grammophon-Laufwerken wieder aufgenommen werden.

Nur die Angst, die alliierten Kontrolleure könnten ihre Hände auf jenen Maschinen legen, an denen kurz zuvor noch Rüstungsmaterial gefertigt wurde, trübt die Zuversicht kurz ein. Doch eine Beschlagnahmung unterbleibt. Die Firma „Gebrüder Steidinger“ kommt unbeschadet aus dem Krieg.
„Sprechmaschinen“ sind gefragt . . .
Auch Bruder Josefs Steidingers Perpetuum hat Glück. Die Kriegsproduktion endet, und man knüpft an die frühere Produktion an. Sie klingt für heutige Ohren kurios. So werden Laufwerke für damals so genannte „Sprechmaschinen“ hergestellt. Der Phonograph war von dem berühmten amerikanischen Erfinder Thomas Alva Edison entwickelt worden und zeichnete Sprache auf eine Wachswalze auf, so dass man den Text archivieren und wieder abspielen konnte. Ein Vorläufer des späteren Diktiergeräts.
. . . und kuriose Waren
Ein weiteres sonderbares Ding aus dem Hause Perpetuum für die sparsamen Nachkriegsjahre: Rasierklingenschleifapparate, die von einem Federwerk angetrieben wurden. Die Tradition des Uhrwerksbaus kehrte 1920 zurück, als man die bewährte Produktion von Hausuhren wieder aufnahm.

Es war aber nicht die Uhr, sondern die neue Lust an der Unterhaltung, die in St. Georgen nach dem Krieg für Arbeitsplätze und volle Auftragsbücher sorgte. Die Deutschen drängten wieder rein ins Vergnügen, und die Nachfrage nach Schallplatten mit Schlagern und Tanzmusik explodierte.

„Wie ein Rudel hungriger Wölfe stürzt sich das Volk auf die langentbehrte Lust. Noch nie ist in Berlin so viel, so rasend getanzt worden“, meldete das Berliner Tagblatt am 1. Januar 1919. Nicht nur in den Städten wirbelten die Tänzer. Auf dem Land waren es die Vereinsbälle, die den Start der jungen Republik begleiteten.
Jeder will jetzt ein Grammophon
Das Grammophon war nun nicht mehr – wie vor dem Krieg – den Betuchten vorbehalten, sondern es wurde zur Massenware. Mehr als 300 Hersteller – darunter viele Hinterhof-Firmen – teilten sich damals in Deutschland den Markt. „Sie kauften von Firmen wie Steidinger oder Perpetuum die Laufwerke, Plattenteller, Tonarme und Schalldosen ein, die Holzgehäuse oder Schatullen machte ein Schreiner, und den Schalltrichter formte der Blechner“, erklärt Jürgen Weisser, der früher bei Perpetuum beschäftigt war.

Wo Elektrik noch keine Rolle spielte, konnte jeder begabte Bastler ein Grammophon bauen. Die Schellackplatten presste die junge Musikindustrie in immer höheren Stückzahlen, die neuen Tänze lieferte Amerika – etwa den Shimmy, der mit dem Jazz Europa erreichte und bei dem man x-beinig zappelnd in die Hocke ging. Trotz aller Bemühungen um millimetergenaue Feinarbeit waren die Möglichkeiten des Steidinger’schen Federantriebs bald ausgereizt, auch wenn man Gags ausprobierte und neben den Plattenspieler einen kleinen Aufsatz für einen sich drehenden Christbaumständer montierte.

Die Tage des rein akustisch-mechanischen Grammophons sind Mitte der 20er-Jahre gezählt. Denn von der neuen Radiotechnik, die in Deutschland immer mehr Begeisterte findet und die in Villingen dem Hersteller Saba viele neue Kunden beschert, profitiert auch die Schallplatte. Elektrische Verstärker und Mikrofone lassen der politischen eine technische Revolution folgen: In bisher unerreichter Klangqualität kann man jetzt die Musik großer Orchester aufnehmen.
Wieder eine Revolution
Wenn aber die Aufnahmequalität zu neuen Höhen vordringt, muss die Wiedergabetechnik nachziehen. In St. Georgen wird unter maßgeblicher Mithilfe des jungen Ingenieurs Hermann Papst ein revolutionär neuer Antrieb entwickelt, den die Werbung für ein Koffergrammophon so anpreist: „Im Heim: Elektrisch. Im Freien: Federantrieb.“

Für die Kombination der beiden Antriebe steht fortan der Name Dual. Er wird als Marke weltberühmt – und verleiht Plattenspielern, so wie auch PE für Perpetuum Ebner, – noch immer höhere Weihen für höhere Klangbedürfnisse der Kunden. Noch heute werden die aus St. Georgen mit Premiumware versorgt.
Motorräder aus St. Georgen!
Keine Zukunft hatte unterdessen Christian Steidingers Vorhaben, in die Motorradproduktion einzusteigen. Aber immerhin wurde ein interessantes Nebenkapitel der deutschen Zweiradgeschichte von 1925 bis 1927 aufgeschlagen. Das Motorrad mit einem selbst konstruierten 200-Kubik-Zweitakter und 3,5 PS konnte sich durchaus sehen lassen. Mit Dreigangschaltung brachte es die Maschine auf 80 km/h. Nach einer Kollision mit einem Ochsengespann mitsamt Sturz von Christian Steidinger machte dessen Vater dem Ausflug in die Motorradwelt ein Ende.

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Zwei Pioniere der Phono-Technik
- Christian Steidinger jun. (1873–1937): Auf ihn geht die spätere Weltfirma Dual zurück. Um 1900 begann der Unternehmer in einer Werkstatt in St. Georgen mit der Fertigung von Kleinteilen für Uhren. 1907 gründete er mit Bruder Josef „Gebrüder Steidinger – Fabrik für Feinmechanik“. Mit zunächst 25 Mitarbeitern wurden die ersten Federwerke für Grammophone gebaut. Schon 1911 trennten sich die Brüder. Nach dem ersten Weltkrieg profitierte die Firma vom Aufschwung der Phonoindustrie. Steidinger präsentierte 1927 die Kombination aus Federlaufwerk und Elektromotor – worauf der Name Dual zurückgeht. Christian überließ 1933 die Firmenleitung seinen Söhnen. Nach 1945 weitete sich die Produktpalette weiter aus und umfasste am Ende ganze Stereo-Systeme. 1982 ging Dual in Konkurs. Die Lizenzrechte für den Gebrauch der Marke Dual besitzt die Alfred Fehrenbacher GmbH in St. Georgen, die vor Ort eine Modellreihe hochwertiger analoger Plattenspieler herstellt.
- Josef Steidinger (1867–1925): Auch er startete 1900 in kleinen Verhältnissen im Untergeschoss eines St. Georgener Gasthauses. Die Zusammenarbeit mit seinem Bruder blieb Episode, Josef wurde in Federlaufwerken und Werkzeug ausbezahlt. 1911 gründete er die „Perpetuum Schwarzwälder Federmotoren und Automatenwerke“, wobei sich im Namen der Traum vom Perpetuum mobile findet. 1920 wurde die Produktion von Grammophonen aufgenommen. 1925 starb Josef Steidinger. Der Betrieb wurde von den Nachkommen weitergeführt. Nach der Heirat Hermine Steidingers mit dem Entwickler und Fabrikanten Albert Ebner wurde die Firma in Perpetuum Ebner (PE) umbenannt. Nach 1945 expandierte auch PE und hatte Ende der 60er Jahre rund 1400 Beschäftigte. 1971 wurde die ins Schlingern gekommene Firma von Dual übernommen. Auch die Marke PE wurde 2014 wiederbelebt. In St. Georgen werden seitdem wieder hochwertige PE-Plattenspieler gebaut. (mic)