Dramatisch, verwirrend, traurig – müsste man den Mordprozess um die Bluttat in einer Kressbronner Asylunterkunft in drei Worten zusammenfassen, dann wären es wohl diese. Es ist nun der sechste von acht angesetzten Verhandlungsterminen am Ravensburger Landgericht. Je weiter der Prozess fortschreitet, desto mehr neue Fragen tun sich auf. Was spielte sich über Monate – vielleicht Jahre – in der Unterkunft ab? Wer ist der Mann auf der Anklagebank? Was hat zu der furchtbaren Tat geführt?
Angeklagter spricht zum ersten Mal vor Gericht
Rückblick: Während der fünften Sitzung am 30. Januar hatte sich der Angeklagte – zur sichtlichen Überraschung aller Beteiligter – zu einer Zeugenaussage eines ehemaligen Mitbewohners geäußert. Was er allerdings sagte, stiftete Verwirrung. Insbesondere beschuldigte der Mann einige seiner ehemaligen nigerianischen Mitbewohner, einer Art Geheimbund oder gar der nigerianischen Mafia anzugehören.
Weiter berichtete der 32-Jährige, sie hätten seine persönlichen Informationen gestohlen, ihn auf TikTok reingelegt, ihn als Frau und als Sklaven bezeichnet. Wie und warum genau sie das getan haben sollen, konkretisierte er nicht. Nach einer Weile unterbrach Richter Veiko Böhm den Redeschwall des Mannes: „Ich verstehe nicht, was der Angeklagte versucht, zu sagen.“ Auch die weiteren Nachfragen des Richters brachten keine Klarheit.
Gab es nun einen kriminellen Geheimbund?
Die Frage nach dem Geheimbund kann auch weiterhin nicht final beantwortet werden. Die meisten nigerianischen Zeugen hatten bisher ausgesagt, darüber nichts zu wissen. Einzelne jedoch berichteten, dass bestimmte Mitbewohner sehr wohl in kriminelle Strukturen verwickelt gewesen sein könnten. Ein Sozialarbeiter im Zeugenstand wiederum betonte, von solchen Machenschaften nichts gewusst zu haben. Was damals wirklich in der Unterkunft vor sich ging, bleibt, wie so Vieles, ungeklärt.
Wer ist der Mann auf der Anklagebank?
Zum Abschluss des sechsten Verhandlungstages präsentiert Psychiater Peter Winckler sein psychologisches Gutachten über den Angeklagten. Dieses hatte er auf Grundlage seiner persönlichen Gespräche mit dem Mann, Beobachtungen dessen Verhaltens im Gerichtssaal sowie Zeugenaussagen erstellt.
Eines steht dabei für den Experten fest: „Der Angeklagte hat nicht aus einer psychischen Erkrankung heraus gehandelt.“ Es gebe weder konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Mann schizophren sei, noch, dass er paranoide Wahnvorstellungen habe, so Winckler.
Was dem Gutachter allerdings auffällt: „Er sitzt emotional unberührt da, obwohl er mit schwersten Vorwürfen konfrontiert ist.“ Normalerweise hinterlasse eine solche Tat psychische Spuren. Der Angeklagte weise allerdings ein „eklatantes Empathiedefizit“ auf. Winckler: „Wenn die Geschädigten in den Raum kamen, wirkte er völlig unbeteiligt. Er hat nicht einmal weggeschaut.“ Später ergänzt er: „Einsicht sehe ich keine.“
Der einzige Gesprächsinhalt, bei dem der 32-Jährige eine emotionale Rührung zeige, sei die Mafia-Thematik innerhalb der Unterkunft. Damit erklärt sich der Psychiater auch, warum während des vergangenen Verhandlungstages plötzlich mehrere Sätze aus dem Mann herausbrachen. „Da konnte ich Entrüstung und Empörung erkennen.“
Außerdem fügt Winckler an: „Was deutlich wurde, war, dass der Angeklagte sich selbst permanent als Opfer sieht. Als Opfer von Schikane, schlechter Behandlung und Benachteiligung.“ Das nenne man in Fachkreisen eine paranoide Persönlichkeitsstörung – sie löse bei Betroffenen das Gefühl aus, sich ständig wehren zu müssen. Mit Wahnvorstellungen habe sie allerdings nichts zu tun. Schlussendlich verneint der Psychiater eine verminderte Schuldfähigkeit des Angeklagten: „Er hätte sich auch gegen seine Taten entscheiden können.“
Tatmotiv immer fragwürdiger
Eine Frage treibt Opfer und Angehörige auch nach so vielen Verhandlungstagen noch um: Warum hat der Mann auf der Anklagebank mutmaßlich sieben Menschen niedergestochen? Und warum ausgerechnet diese sieben? Laut mehreren Zeugenaussagen hatte der 32-Jährige wenig mit seinen arabischstämmigen Mitbewohnern zu tun. Die einzelnen genannten Konflikte zwischen den Parteien waren nur marginal. Größere Probleme soll der Angeklagte mit seinen eigenen Landsmännern gehabt haben – dabei sollen sogar Morddrohungen gefallen sein. Nicht zu Unrecht will die Witwe des Verstorbenen deshalb noch während der Verhandlung wissen: „Warum streitet er mit seinen eigenen Leuten und bringt dann andere um?“
Auf diese Fragen hat auch der Psychiater keine Antwort: „Das, was einem Bauchschmerzen bereitet, ist die Unbegreiflichkeit der Tat.“ Bis heute seien weder das Motiv noch das Ziel klar. Ging es um Rache? Was wollte er damit für sich bewirken? Winckler fügt an: „Niemand hier im Raum – außer der Angeklagte selbst – weiß, was zu dieser schrecklichen Tat geführt hat.“