Dr. Jochen Kraus eilt von einem Zimmer ins nächste, schaut sich zwischendrin Röntgen- oder CT-Bilder an. Kurz nach 17 Uhr sitzen vier Patienten im Wartezimmer der chirurgischen Notaufnahme, drei sind parallel in Behandlung. Seit 8 Uhr hat Kraus an diesem Samstag Dienst, zwei Stunden noch vor sich. Er ist der einzige Arzt hier.

Trotzdem wirkt der Unfallchirurg alles andere als gestresst. „Das geht noch“, sagt er lächelnd. Es habe schon schlimmere Tage gegeben. So wie vor ein paar Wochen, als der Rettungsdienst nach einem Verkehrsunfall sechs Verletzte in die Notaufnahme am Klinikum Friedrichshafen brachte und der Warteraum obendrein voll war.

Unfallchirurg Dr. Jochen Kraus hat von 8 bis 19 Uhr Dienst.
Unfallchirurg Dr. Jochen Kraus hat von 8 bis 19 Uhr Dienst. | Bild: Cuko, Katy

Während draußen ein Vater mit seinem Sohn auf dem Arm ankommt, dessen Kopf in einem dicken Verband steckt, geht der Arzt ans Telefon. „Ein Spital in Österreich. Oberschenkelfraktur“, erklärt er. Der Skifahrer aus Friedrichshafen ist gestürzt und will ins heimatliche Krankenhaus verlegt und hier operiert werden. Bei dem Befund ist binnen 24 Stunden der gebrochene Knochen zu nageln. „Entweder ich oder der Kollege von der Spätschicht muss die OP machen“, sagt der Arzt.

Wenn der einzige Arzt in den OP muss

Wer versorgt währenddessen die anderen Patienten in der Notaufnahme? Die müssen warten, wenn die Behandlung nicht dringend ist, erklärt der Unfallchirurg. Muss der Oberarzt, der Rufbereitschaft hat, mit in den OP, hilft der Kollege von der Allgemeinchirurgie aus. Der holt sich bei Bedarf Rat bei den Spezialisten über die Standleitung in den Operationssaal. „Röntgenbilder kann ich mir auch dort anschauen. So helfen wir uns durch die Personalnot“, sagt Jochen Kraus.

20 Arbeitsstunden pro Schicht unter der Woche

Die war in den vergangenen Wochen besonders groß, weil viele Ärzte krank waren. Manch einer hatte deshalb bis zu zehn 24-Stunden-Dienste in einem Monat. 20 Arbeitsstunden pro Schicht sind unter der Woche regulär, erzählt der Mediziner, während er sich eine Tasse Kaffee aus dem Automaten lässt.

„Wenn dann aber zum Dienstschluss das Chaos ausbricht, kann man nicht einfach gehen.“
Dr. Jochen Kraus, Unfallchirurg

Am Wochenende sind es „nur“ elf Stunden. „Wenn dann aber zum Dienstschluss das Chaos ausbricht, kann man nicht einfach gehen“, sagt Kraus. Dann eilt er wieder in eines der Behandlungszimmer. Der Mann dort hat sich bis auf den Knochen in den Finger gesägt. Die Wunde muss genäht werden.

Unfallchirurg Dr. Jochen Kraus muss unter anderem einem Mann die Fingerkuppe wieder zusammennähen, der sich mit einer Säge verletzt hat.
Unfallchirurg Dr. Jochen Kraus muss unter anderem einem Mann die Fingerkuppe wieder zusammennähen, der sich mit einer Säge verletzt hat. | Bild: Cuko, Katy

Währenddessen betreuen die Schwestern Maria und Susen die anderen Patienten, die in den Behandlungszimmern auf den Arzt warten. Eine ältere Dame wurde umgeschubst und hat sich verletzt. Ein junger Mann hat Party gemacht und sich dabei das Sprunggelenk verknackst. Um ihn müssen sich die Schwestern erst einmal nicht kümmern. Er ist auf der Liege eingenickt, schläft seinen Rausch aus.

Auch in der internistischen Notaufnahme ist Samstagnacht viel zu tun.
Auch in der internistischen Notaufnahme ist Samstagnacht viel zu tun. | Bild: Cuko, Katy

Ein Stockwerk höher in der internistischen Notaufnahme hat das medizinische Team mit zwei Ärzten an diesem Abend ebenfalls mit den Begleiterscheinungen des Partymachens zu tun. Trinken, bis der Arzt kommen muss: Zwei betrunkene Frauen liegen bereits am frühen Abend auf der Station. Beide wurden bewusstlos ins Krankenhaus gebracht, erzählt Schwester Gabi. Es sind nicht die ersten und längst nicht die letzten Volltrunkenen in dieser Nacht.

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Menschen, die sich mit Alkohol selbst „abschießen“, binden Kraft und Zeit, die bei wirklich kranken Patienten dann abgeht. Schlaganfall, akuter Herzinfarkt, schwere Grippe: Alle sechs Betten in den Behandlungszimmern sind belegt. Und acht weitere Patientenakten liegen auf der Theke. Auf der Station gibt es 30 Betten, hier können Patienten über Nacht zur Beobachtung bleiben. Ein paar sind noch frei. Schwester Gabi, die seit 35 Jahren Krankenschwester ist, klagt nicht. „Für einen Samstagabend ist eigentlich noch wenig los.“

Unfallchirurg Johannes Back mit den Schwestern Maria (links) und Susen kurz nach Dienstbeginn. So stressig diese Schicht dann auch ist: ...
Unfallchirurg Johannes Back mit den Schwestern Maria (links) und Susen kurz nach Dienstbeginn. So stressig diese Schicht dann auch ist: Sie versuchen, die gute Laune zu bewahren. | Bild: Cuko, Katy

Kurz nach 19 Uhr übernimmt Unfallchirurg Johannes Back die Regie in der Notaufnahme unten. Der Gang vor den Behandlungszimmern ist leer – noch. „Die Ruhe vor dem Sturm“, sagt Schwester Susen aus Erfahrung – und sie soll Recht behalten.

„Da gab‘s eine Schlägerei. Ich bin wahrscheinlich gleich wieder da.“
Ein Rettungssanitäter

Eine halbe Stunde später bringt der Rettungsdienst eine verletzte Polizistin, die angegriffen und geschlagen wurde. Während der Notfallsanitäter den Transportschein abzeichnen lässt, wird er über seinen Piepser direkt zu einem neuen Einsatzort beordert. „Da gab‘s eine Schlägerei„, berichtet er, „ich bin wahrscheinlich gleich wieder da“.

Dauerlauf zwischen den Behandlungszimmern

Während die Polizistin zum CT-Check gebracht wird, warten die nächsten Notfälle auf Behandlung. Ein Junge, der mit seinen Inlinern gestürzt ist. Eine Frau, die „Rücken“ hat. Ein älterer Mann mit Pflaster am Kopf, der umgerannt wurde. Johannes Back springt von einem zum anderen. „Ich versuch‘ alles wegzuschaffen, bevor die OP kommt. Aber es werden immer mehr“, sagt er. Trotzdem nimmt er sich die Zeit, dem jungen Mann mit dem verknacksten Fuß zu erklären, dass da nichts kaputt ist.

Der verletzte Skifahrer beschäftigt mehrere Ärzte. Er wird dann doch nicht mitten in der Nacht operiert.
Der verletzte Skifahrer beschäftigt mehrere Ärzte. Er wird dann doch nicht mitten in der Nacht operiert. | Bild: Cuko, Katy

Kurz nach 20 Uhr kommt der verletzte Skifahrer mit dem Rettungswagen an. Die Polizistin geht, obwohl sie besser bleiben sollte. An der Tür zur Notaufnahme klingelt jemand Sturm. Schwester Maria schaut nach, erklärt geduldig, dass die Patienten hier nach Dringlichkeit behandelt werden, nicht nach der Reihenfolge ihres Eintreffens. Drei, vier Stunden Wartezeit sind in der Notaufnahme normal. Nur sehen die Patienten draußen nicht, wie drinnen der Arzt rödelt. Nicht selten reagieren Patienten ungehalten oder gar aggressiv.

In der Notaufnahme werden Patienten nach dem Grad der Dringlichkeit behandelt: Kritische Fälle kommen sofort dran. Wer nur eine kleinere ...
In der Notaufnahme werden Patienten nach dem Grad der Dringlichkeit behandelt: Kritische Fälle kommen sofort dran. Wer nur eine kleinere Blessur hat, muss unter Umständen längere Zeit warten. | Bild: Cuko, Katy

Johannes Back schaut sich die Röntgenbilder des Skifahrers an, stellt fest, dass es kein einfacher Bruch ist, die OP viel aufwändiger wird als gedacht. Mitten in der Nacht stundenlang operieren? Nach Rücksprache mit dem Oberarzt beschließen beide, den Mann gleich morgens um 8 Uhr in den OP-Plan zu schieben. Kaum legt der Arzt das Telefon weg, läuft draußen der nächste Angetrunkene ins Behandlungszimmer, der gestürzt ist. Ein Knochen im Handgelenk ist gebrochen, stellt sich später heraus.

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Die Krankenschwestern Maria und Susen haben gerade Feierabend gemacht, da meldet die Rettungsleitstelle gleich drei neue Fälle. Ein Mann wurde geschlagen und mit Pfefferspray attackiert, ein anderer ging nur als zweiter Sieger aus einer Schlägerei hervor. Der Dritte wird Johannes Back und Schwester Christel, die wie so oft die Nachtschicht schiebt, über Stunden auf Trab halten.

„Drehtürpatient“ macht ratlos

Der 65-Jährige ist obdachlos und ein Dauergast im Klinikum. „Drehtürpatienten“ nennt man hier diejenigen, die oft und meistens volltrunken aufschlagen, nach kurzer Zeit wieder entlassen werden und tags darauf wieder da sind. Eigentlich hat der Mann, der bereits mehrfach wegen Randalen und aggressiven Verhaltens auffiel, Hausverbot. Trotzdem muss ihn der Notarzt dalassen, auch wenn ihm erkennbar nichts fehlt. Außer, dass er sturzbetrunken ist. Ob er tatsächlich von einem Auto angefahren wurde, wie er angibt, weiß keiner.

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Arzt muss Sicherheitsdienst und Polizei rufen

Während Johannes Back das nächste Opfer einer Schlägerei versorgt und den Eltern eines Teenagers, der zusammengeschlagen wurde, versichert, der Junge habe wirklich keine Milzruptur, zieht der „Gast“ auf dem Gang langsam Schuhe, Socken und Pulli aus. Er brüllt herum, versucht aufzustehen, bis er von der Liege fällt. Arzt und Schwester sind ratlos. Was, wenn er wieder randaliert? Johannes Back ruft erst den hauseigenen Sicherheitsdienst, dann die Polizei.

Vier Polizisten halten Obdachlosen in Schach

Eine halbe Stunde später kommen vier Beamte. Man kennt sich. Wenigstens ist der Mann jetzt unter Kontrolle. Viele Telefonate später hat der Unfallchirurg einen Kollegen von der „Inneren“ überzeugt, die Haftfähigkeit des Obdachlosen zu prüfen. Er selbst darf das nicht. Erst dann können die Polizisten den Mann mitnehmen, damit er auf der Wache seinen Rausch ausschläft.

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Eine Stunde nach Mitternacht kehrt ein wenig Ruhe ein. Am Ende dieser Nacht haben Jochen Kraus und Johannes Back 32 Patienten jeweils allein in der chirurgischen Notaufnahme versorgt. Ein Knochenjob für die Unfallchirurgen. Doch sie machen ihn gern, sagen beide.