Die Idee für diese Reportage ist fast ein Jahr alt. Anfangs hatte Florian Nägele, Streetworker in Friedrichshafen, große Bedenken, jemanden mitzunehmen, wenn er seine Runden dreht. Zu groß die Sorge, mühsam erarbeitetes Vertrauen zu verspielen. Er hat sich darauf eingelassen: Sechs Stunden waren wir am Donnerstag vor einer Woche unterwegs.
Timo: Mit Glück überlebt
Der Mann schwankt, die Augen sind glasig. Das Baby auf seinem Arm, kein halbes Jahr alt, quietscht vergnügt, während er liebevoll, aber nur schwer verständlich auf den Jungen einplappert. Um ihn herum stehen junge und ältere Männer, zwei mit Bierflasche in der Hand. Bei einem hängen Reste einer weißen, puderartigen Substanz unter der Nase im Drei-Tage-Bart fest. Er wirkt zugedröhnt, aber entspannt. „Hey, was hast Du mir versprochen?“ Florian Nägele kennt jeden Einzelnen der gerade harmlos am Hinteren Hafen herumhängenden Truppe seit vielen Jahren, begrüßt sie mit Handschlag und einem freundschaftlichen Rempler mit der Schulter. Dass der 23-jährige Timo (alle Namen geändert) mittendrin ist, gefällt ihm genauso wenig wie die Bierflasche in seiner Hand. Timo inspiziert seine Schuhspitzen. „Haben uns zufällig getroffen, ich geh gleich wieder“, nuschelt er schuldbewusst.
Jeder der sechs Männer – drei von ihnen sind Brüder – saß bereits im Gefängnis. Diebstahl, Körperverletzung, Drogendelikte, alles dabei. Einige von ihnen stecken wieder in Schwierigkeiten. Es geht um ein Gewaltverbrechen, das einem von ihnen fast das Leben gekostet hätte. Der Vater des Babys rechnet täglich damit, dass die Polizei ihn abholt. „Gibt wahrscheinlich wieder keine freien Plätze in der U-Haft“, wirft er emotionslos in die Runde. Während Spaziergänger die Uferstraße auf und ab laufen, Hunde auf der Wiese ihr Geschäft verrichten und ein Radler am Kneipp-Brunnen in aller Seelenruhe den kaputten Schlauch an seinem Vorderrad repariert, versucht Florian Nägele die beiden Jüngsten wortreich darin zu bestärken, bei der Polizei die Wahrheit zu sagen. Timo hat die Auseinandersetzung nur mit Glück überlebt. „Ich weiß nicht, wer Täter und wer Opfer ist“, erklärt der Streetworker später. Das herauszufinden ist nicht sein Job. „Aber ich bin für den Jungen da.“
Verschnaufpause auf einer Bank am Seeufer. Kinder baden im Flachwasser, ein Pärchen kuschelt auf der Wiese. Für sie ist die Welt, mit herrlichem Seepanorama vor der Nase, sehr in Ordnung. Zwangsweise kommt nun die Frage nach dem Baby in der Runde krimineller Zeitgenossen. Die Mutter hatte auf Nachfrage des Streetworkers beteuert, sie gehe mit dem propperen Kleinen zu jeder Vorsorgeuntersuchung und habe ihn impfen lassen. Er müsse jedes Mal ein Gespür dafür entwickeln, ob das Baby bei der Mutter, die intellektuell eingeschränkt ist, noch sicher sei, sagt Nägele. Die Hemmschwelle bis zum Einzuschreiten ist hoch für ihn.
Aber genau so versteht er seinen Job: „Bedingungslos Beziehung anbieten.“ Streetworker arbeiten nicht mit Druck und Kontrolle wie Sozialarbeiter oder Fallmanager, die vom Schreibtisch aus "fordern und fördern", aber so weit weg sind von der Straße, sondern mit Vertrauen und Verständnis – so schwer das manchmal auch ist. Um Zugang zu Jungs wie Timo und seinen Brüdern zu bekommen, gebe es für ihn nur den einen Schlüssel: Ich mag dich, so wie du bist. „Genau das brauchen wir hier“, sagt Florian Nägele voller Überzeugung. Er ist seit fast zehn Jahren in Friedrichshafen auf der Straße unterwegs.
Piet: 16 Jahre Knasterfahrung
Als Nägele damals von der Stadt engagiert wurde, ging es darum, Kontakt in die rechtsextreme Szene zu bekommen – zu einem guten Dutzend hauptsächlich Teenagern, die sich die Schädel kahl geschoren hatten und in der Gruppe oft Randale machten. Einer ihrer Anführer war Piet, ein Mann wie ein Baum. Rauchend sitzt er im Uferpark beim Pavillon, quatscht mit ein paar Leuten, darunter Timo, der mittlerweile schon deutlich mehr intus hat als eine Flasche Bier. Als er Florian Nägele sieht, begrüßt der blonde Riese ihn schon von Weitem lachend mit flapsigen Sprüchen – man hat sich lange nicht gesehen. „Der hat's schon cool gemacht“, erzählt Piet wenig später anerkennend, wie sich der Streetworker damals Respekt in der Szene verschafft habe, obwohl er ihn am Anfang als potenziellen Gegner eingestuft, ihm nicht über den Weg getraut hatte. Seither habe ihm „der Typ“ oft den Arsch gerettet, ihm beispielsweise Sozialstunden vermittelt, damit er auf Bewährung draußen bleiben konnte.
80 Stunden muss er gerade wieder ableisten. Trotzdem: 16 Jahre hat der gebürtige Häfler hinter Gittern verbracht. 16 von 42 Lebensjahren im Strafvollzug. „Ich hab' viel Scheiße gebaut und viel gebüßt, mein Potenzial in die falsche Richtung entwickelt“, sagt er lakonisch. Bei den Einbrüchen ging es für ihn nicht ums Haben, sondern um den Kick, um Macht. Dass er als Mittzwanziger einen Mann „zerlegt“, fast zu Tode geprügelt hat, tue ihm heute leid. Acht Jahre hat er allein dafür gekriegt. Er habe früher den Ärger und jene, an denen er seine Wut auslassen kann, geradezu gesucht. „Die meisten, die besoffen sind, ticken so.“ Prügeln nennt Piet „Dampf gegenüber der Gesellschaft ablassen“. Eine Gesellschaft, die Leute wie ihn ablehnt.
Dass er „Macken“ hat, die er nicht mehr wegkriege, gesteht der 42-jährige Piet sich selbst ein. Er gibt sich geläutert, während Boxer-Hündin Ebby um seine Beine scharwenzelt. „Die ist wie ich, ein Straßenköter. Unser Zuhause war die Straße. Aber ich hab' die Schnauze voll von diesem Leben.“ Heute gehe er Stunk aus dem Weg und könne aus der Haustür treten, ohne dass die Polizei schon auf ihn warte. Seit zweieinhalb Jahren musste er nicht mehr einfahren, auch wenn „ein Ding“ noch offen sei. Früher habe er gedacht, sein Leben sei cool. Heute wisse er, dass es verlorene Zeit war. „Ich muss niemandem mehr was beweisen und würde alles rückgängig machen, wenn ich könnte“, sagt der Hüne, der in diesem Moment tatsächlich lammfromm wirkt und sich selbst eine gute Sozialprognose ausstellt, auch wenn kein Richter vor ihm sitzt. Job, Wohnung, vor allem seine Freundin: „Ich hab' jetzt echt was zu verlieren.“ Er fange bei Null an und habe noch 25 Jahre, um sich ein normales Leben aufzubauen. Was auch immer er darunter versteht.
Aufmerksam hört der Streetworker neben ihm zu, schaut auf den See, sagt kaum etwas. Dann erinnern sich beide daran, dass er in seiner Funktion als Lehrbeauftragter für angehende Sozialarbeiter Piet mal als „Experten von der Straße“ mit ins Seminar genommen habe und erzählen ließ. Nägele arbeitete mit ihm auch beim Projekt „Gewaltfrei durchboxen“ zusammen, wohl wissend, dass ihn die Jungs von der „Bruderschaft der Straße“ jederzeit enttäuschen könnten. Ihm ist etwas anderes wichtig, und irgendwann in dem Gespräch sagt es Piet auch: „Er ist immer da, wenn ich ihn brauche. Ich vertrau' ihm voll!“
Franz: Endlich raus aus dem K 7
Genüsslich an einer E-Zigarette schmauchend, sitzt Franz auf einer Bank am Romanshorner Platz. Florian Nägele läuft schnurstracks auf den Mann zu, der im Rentenalter ist. „Du, das mit dem Fahrrad kriegen wir hin“, sagt er und reicht ihm die Hand. Die beiden schwatzen, die Stimmung ist gelöst. Sie kennen sich vom K7, der Obdachlosenunterkunft in der Keplerstraße, in der Florian Nägele seit Oktober 2016 quasi der Obmann ist. Franz ist raus, hat vor einem Monat eine eigene Wohnung bekommen, „aber die grauen Haare darf man nicht zählen“, sagt er. Wie vielen Leuten er auf den Füßen gestanden habe...
Als Franz vom Ordnungsamt ins K7 eingewiesen wurde, hieß es, das sei maximal für ein halbes Jahr. 40 Jahre habe er in Friedrichshafen gelebt und gearbeitet, dann wurde er schwer krank, das Privatleben geriet in Schieflage – Vollabsturz. „Ich war dreieinhalb Jahre drin“, erzählt er. Es klingt, als würde er vom Gefängnis erzählen. Abgefunden habe er sich nie damit. Aber mit der Adresse „Keplerstraße 7“ wolle einen keiner mehr nehmen, und von der Stadt gebe es keine Unterstützung. Aus dem Büro im Landratsamt rausgeschmissen habe ihn eine Frau, weil er wieder und wieder nach einer Wohnung gefragt habe. „Nur dumme Sprüche wie: Der soll doch froh sein, dass er ein Dach über dem Kopf hat“, schimpft Franz. Jetzt hat es geklappt, anderthalb Zimmer, sein eigenes Reich. „Ich mach meine Tür zu und Ruhe ist“, erklärt er. Im K 7 gebe es von abends bis 4 Uhr morgens nur Geräusche um einen herum – von Musik über Gebrüll bis „ich schlag' dich tot“. „Ich werd' dich vermissen“, sagt Florian Nägele. Nicht nur, weil er auf Franz setzen konnte, wenn im K 7 Not am Mann war. Der Zweiradmechaniker hat auch viele kaputte Fahrräder repariert, auch in einer Schule.
Seppi: Endstation Eintrachtstraße
56 Quadratmeter für eine fünfköpfige Familie ist wenig Platz, 550 Euro zum Leben auch nicht viel. In den maroden Wohnblöcken in Allmannsweiler sind Menschen untergebracht, die sonst auf der Straße stehen würden. Endstation Eintrachtstraße. Seppi ist aber keiner, der aufgegeben hat – ganz im Gegenteil. Er legt sich ins Zeug für die zwei Dutzend Kinder in den vier Blocks, nicht nur für seine drei, die anderthalb bis sieben Jahre alt sind und bei ihm und seiner Freundin leben, erzählt er. Ein Kind von ihm und zwei von ihr sind in Pflegefamilien untergebracht. Einen Pool und ein Klettergerüst will er aufstellen, einen Zaun um die Wiese hinterm Nachbarblock erstreiten, damit die Kiddies geschützt spielen können. „Die Autos rasen hier durch und keiner passt auf“, echauffiert sich der Österreicher, der 2013 am Bodensee gelandet und kurz darauf gestrandet ist. Seit einem schweren Unfall ist die Schulter kaputt, als Automechaniker kann er nicht mehr arbeiten. Jetzt sorge er rund um den Block für Ordnung. Aber der Spielplatz drüben neben dem Bolzplatz sei gefährlich, „Spritzen, Glasscherben, Dreck“. Kein Umfeld für Kinder.
Der Streetworker weiß um die Sorgen und Nöte hier. Alkoholiker und Drogenabhängige. Ein Mann, der regelmäßig seine Frau verprügelt. Psychisch labile, kranke Menschen. Keine Arbeit, keine Perspektive. Florian Nägele hört zu, lässt Seppi schimpfen. Wenn so viele Menschen mit so vielen Problemen auf engem Raum miteinander leben müssen, kracht es mitunter gewaltig. Die Polizei ist immer wieder vor Ort. „Wir können nicht ausweichen, wenn es Ärger gibt. Und hier gibt es oft Ärger“, sagt Seppi. Es klingt kämpferisch, und ein Waisenknabe scheint der kräftige Mittvierziger auch nicht zu sein. „Ich weiß, es ist schwierig, dass Kinder hier wohlbehütet aufwachsen“, antwortet ihm Nägele und erklärt, dass er für die Kinder in der Eintrachtstraße in der zweiten Augustwoche ein Ferienprogramm organisiert hat. Wenigstens das. Ansonsten muss hier jeder jeden Tag für sich selbst schauen, wie er klar kommt. So lange, bis die herunter gekommenen Wohnblöcke abgerissen und durch neue vorn an der Messestraße ersetzt sind. Man habe ihnen versprochen, dass sie dann dort eine neue Wohnung bekommen, sagt Seppi. Die zwei Jahre wollen sie jetzt auch noch aushalten.
Streetwork in FN
- Organisation: Seit 2008 sind unter dem Dach des Vereins Arkade Streetworker in Friedrichshafen unterwegs, um jungen Menschen in Krisen einen Ausweg aufzuzeigen. Zielgruppe sind Jugendliche, die Alkohol oder Drogen im Übermaß konsumieren, Schule oder Ausbildung abgebrochen haben, auf der Straße leben, überschuldet und oft orientierungslos oder gar kriminell sind. Sie erhalten Hilfe und Unterstützung bei der Alltagsbewältigung und Entwicklung einer Lebensperspektive. Aus anfänglich einer Stelle wurden inzwischen 2,8 Stellen; drei Streetworker kümmern sich derzeit vor allem um die mobile Jugendarbeit in der Stadt. Florian Nägele war der erste, heute ist er Bereichsleiter.
- Projekte: Die Arkade ist zusammen mit dem Verein Dornahof auch in der Wohnungslosenhilfe in Friedrichshafen tätig und betreibt die Obdachlosenunterkunft in der Keplerstraße. Seit drei Jahren bieten die Streetworker auch soziale Beratung für Prostituierte an, die bis zur Ausstiegshilfe reicht. Im April hat der Häfler Gemeinderat das Projekt verlängert; auch dafür ist Florian Nägele zuständig.
Zahlen
- 2008 beginnt Streetworking in Friedrichshafen
- 204 junge Menschen wurden 2016 von Streetworkern begleitet und beraten, darunter mehr als die Hälfte Minderjährige und 65 unter 25-Jährige
- 38 dieser Personen waren 2016 von Wohnungslosigkeit betroffen, lebten also auf der Straße
- 2,8 Stellen finanziert die Stadt für Streetworker
- 80 Prostituierte sind in der Stadt angemeldet, mindestens doppelt so viele Frauen sind in dem Gewerbe tätig
- 156 000 Euro zahlt die Stadt jährlich fürs Streetworking