In Friedrichshafen wurden keine Menschen im KZ vergast. Dennoch fanden viele Arbeiter durch ihre Beschäftigung am Bodensee den Tod: Sie wurden ermordet. Doch die sichtbaren Spuren der Opfer verlieren sich. Sie werden überwuchert von Gebäuden, Bäumen und Gras. Und damit verliert die Nachwelt etwas Wertvolles: einen Ort des Lernens. So sieht es zumindest Thomas Kliebenschedel. Er forscht seit 24 Jahren zum NS-Erbe der Region und wünscht sich einen Lernort für die Stadt. Und er weiß auch genau, wo der entstehen könnte.

Ein Drittel ermordet

Der 58-Jährige hat zum Treffen in Raderach geladen. Genauer gesagt zum Entsorgungszentrum Weiherberg, das Gelände liegt zwischen Raderach und Efrizweiler. Unweit der Stelle, wo sich ein Müllberg stapelt, befand sich nicht nur eine Außenstelle des Konzentrationslagers Dachau. Vor dem gelben Metalltor des Zentrums erzählt Kliebenschedel: „Hier wurden ab 1943 Brennkammern der V2-Raketen getestet.“

Drei Prüfstände, ein Sauerstoffwerk und einige Nebengebäude waren hier seinen Recherchen zufolge von mindestens 420 sogenannten Fremdarbeitern errichtet worden. Die Männer stammten aus den besetzten Ost-Gebieten, den Niederlanden und Frankreich. „417 von ihnen wurden im November 1943 in das KZ Buchenwald, dann in das KZ Dora überstellt“, berichtet Kliebenschedel. „Gut ein Drittel von ihnen wurde letztlich ermordet.“

Thomas Kliebenschedel vor dem Entsorgungszentrum Friedrichshafen-Weiherberg. Auf den Foto sind alte Aufnahmen des Raketen-Testgeländes ...
Thomas Kliebenschedel vor dem Entsorgungszentrum Friedrichshafen-Weiherberg. Auf den Foto sind alte Aufnahmen des Raketen-Testgeländes zu sehen. | Bild: Benjamin Schmidt

Am heutigen Eingang des Entsorgungszentrums erinnert nichts an diese Schicksale. „Damit verpassen wir die Gelegenheit, uns zu erinnern“, bedauert Kliebenschedel. Zwar gebe es in Kluftern, am einstigen Eingang zum Testgelände, ein Mahnmal gegen das Vergessen, errichtet von der Künstlerin Waltraud Späth. Doch auch der dafür zuständige Kurator Gunnar Seitz wird später dem SÜDKURIER berichten: „Ich denke ebenfalls, das Gelände müsste komplett erschlossen werden, am besten künstlerisch.“

Die Arbeit der Friedrichshafener Künstlerin Waltraud Späth trägt den Namen „Gegen das Vergessen“. Sie findet sich am ...
Die Arbeit der Friedrichshafener Künstlerin Waltraud Späth trägt den Namen „Gegen das Vergessen“. Sie findet sich am Oberschwaben-Kunstweg in Friedrichshafen-Efrizweiler. | Bild: Gunnar Seitz

Betonbrocken und Löcher im Wald

Noch sind aber die Spuren der Vergangenheit nicht ganz verschwunden. Thomas Kliebenschedel führt links des Eingangs in das angrenzende Waldstück hinauf. Die Sonne bricht sich durch das grüne Blätterdach, es riecht nach Moos. Nach einem kurzen Fußweg bergan bleibt er vor einem vermeintlichen Felsen stehen. „Das hier ist eine Seitenwand des Prüfstandes 1“, erläutert der gelernte Gießermeister. Wie die hier gelandet ist? „Französische Soldaten haben das massive Fundament, darin eingebettet ein Steuer- und Beobachtungsbunker, 1948 gesprengt.“ Von der Wucht der Detonation flog die Mauer hunderte Meter weit. Wer genauer hinsieht, entdeckt auch: Überall im Wald liegen Betonbrocken, alles Spuren der Explosion.

Was zunächst wie ein Felsen anmutet, sind Teile einer Raketen-Teststation. Sie wurde im Jahr 1948 gesprengt.
Was zunächst wie ein Felsen anmutet, sind Teile einer Raketen-Teststation. Sie wurde im Jahr 1948 gesprengt. | Bild: Benjamin Schmidt

Neben den Gebäuderesten gibt es ein weiteres Mahnmal für die zerstörerische Kraft des Krieges: Bombenkrater. Gleich mehrere kreisrunde Löcher mit einem Durchmesser von mehreren Metern finden sich im Wald. „Wer das nicht weiß, übersieht es einfach“, ist sich Thomas Kliebenschedel sicher. „Dabei kann man sehen, wohin Faschismus führt: Zu Konzentrationslagern, Bomben, Zwangsarbeit. Zu zerrissenen Menschen.“

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Lernen für morgen

Was Kliebenschedel vorschwebt, ist kein Ort, um in die Vergangenheit zu blicken. Vielmehr hofft er darauf, dass sich ein etwas entwickelt, wo etwa Schulklassen Kunstwerke ausstellen, sich kreativ mit der Geschichte und ihrer eigenen Gegenwart befassen. „Derzeit ist das extrem konservative Gedankengut auf dem Vormarsch. Die Leute müssen verstehen, wohin das letztlich führen kann“, warnt Kliebenschedel. Er zitiert Paragraf 2 des Grundgesetzes: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit.“ Parteien, die etwa gegen Homosexuelle oder Ausländer hetzen, erkennen für ihn dieses Recht nicht an. „Und solch ein Gedankengut hatten wir bereits in Deutschland. Und wir wissen, wohin das geführt hat.“

Der Geschichtsforscher will noch einen anderen Ort zeigen, etwas östlich des Entsorgungszentrums gelegen. „Hier standen einst die Baracken der Arbeiter. Nach der Bombardierung Friedrichshafens 1944 dienten sie für wenige Monate als KZ-Ausweichlager für die in Friedrichshafen Inhaftierten.“ Ein Weg, den heute noch die Landwirte benutzen, führte einst durch das Lager. Dachpappe der Behausungen liegt noch in der Wiese. Etwas entfernt des Weges erinnert eine Tafel an den Ort. „Auch hier könnte man so viel mehr machen“, findet Thomas Kliebenschedel. Denn zwar befand sich ein weitaus größeres KZ-Arbeitslager in der Stadt Friedrichshafen. „Doch wo das stand, stehen heute Gebäude der ZF und der Städtischen Wohnbaugenossenschaft.“

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Ein weiterer Blick aufs Lager. Das historische Bild wurde allerdings von der anderen Seite des Areals aufgenommen.
Ein weiterer Blick aufs Lager. Das historische Bild wurde allerdings von der anderen Seite des Areals aufgenommen. | Bild: Benjamin Schmidt

Landratsamt will erinnern

Wie also stehen die Chancen für einen Lernort am Entsorgungszentrum? Seitens des Landratsamtes gibt es ermutigende Worte. Stefan Feucht, Leiter des Kreiskulturamtes, schreibt auf Anfrage: „Das Kreiskulturamt beschäftigt sich seit geraumer Zeit mit diesem wichtigen Thema und es ist uns auch ein wichtiges Anliegen, an dieser Stelle unter anderem an die Zwangsarbeiter des damaligen Gefangenenlagers zu erinnern.“ Die Überlegungen drehen sich laut Feucht aktuell noch um die Frage, wie und in welcher Form ein angemessenes Gedenken und Erinnern vor Ort möglich sei. Er schließt: „Dazu gibt es auch einen Austausch mit Herrn Kliebenschedel.“

Das hier ist kein einfaches Loch im Boden. Das Bild wurde vom Grund eines Bombenkraters aufgenommen. Davon gibt es mehrere im Wald um ...
Das hier ist kein einfaches Loch im Boden. Das Bild wurde vom Grund eines Bombenkraters aufgenommen. Davon gibt es mehrere im Wald um das Entsorgungszentrum. | Bild: Benjamin Schmidt

Anderer Meinung scheinen die Verantwortlichen bei der Stadt Friedrichshafen zu sein. Sprecherin Monika Blank schreibt auf Anfrage: „Das Stadtarchiv der Stadt Friedrichshafen hat die Geschichte des KZ-Arbeitslagers in den letzten Jahren kontinuierlich und nach wissenschaftlichen Standards aufgearbeitet.“ Sie verweist auf den Ortsrundweg in Kluftern sowie den Fridolin-Endraß-Platz in Friedrichshafen, wo an den ermordeten Widerstandskämpfer erinnert wird.

Auf der Suche nach Unterstützern

Thomas Kliebenschedel hofft dennoch darauf, dass er mit seinem Vorhaben Erfolg haben wird. Und er hofft, Unterstützerinnen und Unterstützer zu finden. „Ich mache das jetzt noch, bis ich in die Kiste hüpfe. Wichtig ist aber vor allem, dass sich junge Menschen am Projekt beteiligen“, betont er. Schließlich gehe es um die Frage, wie die kommenden Generationen leben wollen – und können.