Tanz im Gewächshaus, äthiopisch kochen, Nachtwanderungen durch die Stadt – das Seekult-Festival bietet in diesem Jahr nicht nur ungewöhnliche Formate, sondern sucht auch ungewöhnliche Orte auf. „Wir wollten die Stadt als Raum neu entdecken und Orte schaffen, an denen unterschiedliche Menschen in neuen Formaten Gemeinschaft erleben können“, fasst Lili Schreiber das Konzept zusammen.
Sie bildet mit Jil Tischer das Leitungsteam des Festivals. Seit Februar haben sieben Studenten der Zeppelin Universität (ZU) im Rahmen eines Seminars das Programm für das diesjährige Seekult-Festival entwickelt. „Wir sind erst mal ganz viel durch die Stadt gelaufen, haben viel angeschaut und viele Gespräche geführt“, erzählt sie. Aufgefallen ist den Studenten dabei nicht nur, wie eng verzahnt Industrie- und Wohngebiete in Friedrichshafen sind, sondern auch wie viele unterschiedliche Menschengruppen hier leben, ohne sich im Alltag zu begegnen. „Es geht gar nicht so sehr um Studenten und Häfler, sondern auch um Junge und Alte, Menschen mit Behinderungen, marginalisierte Gruppen“, sagt Jil Tischer.
An zehn Tagen sollen beim Festival über 40 Formate neue Begegnungsmöglichkeiten schaffen. Dafür bleiben die Studenten nicht in der Uni, sondern haben zwölf teils unkonventionelle Orte für ihre Veranstaltungen gewählt: Im „Mäusetunnel“ etwa stellt der Meme-Künstler Cem A. auf Flächen aus, die sonst der Werbung gehören. Auf dem Buchhornplatz gibt es „Urban Dance“ und dort geben Paulinko, Skuffbarbie und Ceren das Eröffnungskonzert im Glashaus der Blauen Blume.
Das Blumenhaus Mayer in der Hochstraße wird am 27. Oktober zur Bühne: Wo sonst Blumen, Sträucher und Kräuter gedeihen, treten die Luftschiffkapelle der ZU mit Jazz, Pop, Soul und Funk auf. Ihnen folgt Fraktion 161, die mit Rock, Rap und Punk beim letzten Klimastreik in Friedrichshafen auftraten und schließlich Radioactive Honey, bekannt vom Kulturufer und der Langen Nacht der Musik für kreativen und melodischen Rock. Vorher gibt es einen Apéro und nachher eine Party. „In der Form hat es das noch nicht gegeben, es ist aufregend und auch viel Arbeit, aus einem Gewächshaus einen Konzert- und Tanzsaal zu machen“, sagt Richard Reichel, der sich als Freiwilliger an der Organisation beteiligt. Zu den 40 Formaten gehören Ausstellungen, Filmvorführungen und Konzerte. Vor allem aber laden Mitmachaktionen die Besucher ein, aktiv mitzugestalten. Sie können mitdiskutieren, mitgestalten oder in Workshops mitarbeiten – zum Beispiel lädt am 21. Oktober der Künstler und DJ Julian Kraemer ein, beim Bemalen einer Weltkugel über die kreative Gestaltung von Orten nachzudenken und ein finnisches Radiokollektiv bietet eine Ideenwerkstatt zu offenen Radioformaten an. Am 22. Oktober können sich alle Altersgruppen in der Molke an Graffitis versuchen.
Die Studenten haben sich dafür verschiedene Partner in der Stadt gesucht. Die Zeppelin-Uni ließ den Künstler Stefan Inauen einen Seminarraum zum Plastikraum umbauen. Besprühte Folien an einem Baugerüst bilden einen Raum im Raum. Stefan Inauen stellt sich am 26. Oktober in seinem Plastikraum einem öffentlichen Künstlergespräch. Das Zeppelin Museum bietet eine Führung an. Aus der Begegnung mit Flüchtlingen im Café Miteinander an der Gemeinde St. Columban entstand die Idee eines Kochkurses, in dem Menschen aus Äthiopien Rezepte aus ihrer Heimat vermitteln. „Es geht uns auch um alternativen Wissenstransfer und ein Kochkurs mit anschließendem Essen ist ein gemeinschaftlicher Prozess“, erklärt Schreiber. Die Fränkel-AG stellt für den Kurs ihr Kochstudio zur Verfügung.
Mit der Stipendiatin der ZF-Kunststiftung Luiza Margan entwickelten sie das Konzept für eine Mitmachausstellung: Während des Festivals soll ein „Archiv für Dezentrales“ entstehen. Jeder kann zum Thema „Leben und Freizeit in Friedrichshafen Fotos, Gegenstände oder auch Geschichten beisteuern. „Archive sind für die Kunst immer interessant, auch weil sie oft im Verborgenen existieren“, sagt Lili Schreiber. Richard Reichel ergänzt: „Bei uns kann jeder etwas zum Archiv beitragen.“ „Das ist natürlich ein Experiment, wie jede Mitmachaktion“, fügt Jil Tischer hinzu. Am 28. Oktober werden Luzia Margan und die Hamburger Professorin Nora Sternfeld in einem Podiumsgespräch dieses Experiment auswerten. Der beim Seekult-Festival im vergangenen Jahr entstandene und jetzt von einem Verein betriebene „Raum“ am Buchhornplatz wird zur (De-)Zentrale des Festivals. Hier finden Workshops und Diskussionen statt, das Uni-Radio der ZU verlegt sein Studio hierher. Am „Raum“ startet auch der Rundgang „Ein Manifest für die Nacht“: Gemeinsam besuchen die Teilnehmer Angstorte etwa für Frauen und suchen nach Möglichkeiten für eine solidarische Stadt, in der sich auch nachts alle sicher fühlen können. Am letzten Samstag werden die DJs vom „Stadtgeflüster“ im Kulturhaus Caserne eine große Abschlussparty feiern, mit Videoinstallationen und Live-Musik von den Technoensembles Subreverb und Skat und der Rock- und Popband Out of Order. Der Sonntag gehört der theoretischen Auswertung und endet mit dem Film „Der Himmel über Berlin“ im Studio 17.
Das Festival
Vom 20. bis 29. Oktober lädt das Seekult-Festival zu über 40 Veranstaltungen an einem Dutzend Orten ein. Es wird im Rahmen eines Seminarkurses von Studierenden gestaltet. In diesem Jahr lautet der Titel „Fluide Räume – Ein Festival für Dezentrales“. Das Ziel ist es, Strukturen in der Stadt besser zu verstehen und durch Kunst und Kultur Gemeinschaft zu schaffen. Bis auf die Abschlussparty ist der Besuch kostenfrei. Programm und weitere Informationen gibt es im Internet unterhttp://www.seekult-festival.de