Maria Miller erinnert sich noch gut an den Moment, in dem sie an jenem 7. Mai alleine im Schockraum stand. Dort, wo sie gerade noch mit Ärzten und anderen Pflegern um das Leben der Unfallopfer gekämpft hatte, herrschte jetzt Leere. „Es war wie in einem Film“, sagt die 35-Jährige, „erst als das Adrenalin nachließ, habe ich überhaupt realisiert, was passiert ist.“
Miller begann den Schockraum, das Herz jeder Notaufnahme, erstmal aufzuräumen. Sie rückte schwere Apparate, Beatmungsmaschinen und Infusionsgeräte wieder an ihren Platz und säuberte den Raum, in dem jede Sekunde zählt, denn hier werden nur Schwerverletzte behandelt.

Ereignisse wie der schwere Unfall am 7. Mai, bei dem eine Schwangere und ihr Bruder mitten aus dem Leben gerissen wurden, hinterlassen tiefe Spuren. Zurück bleiben trauernde Familien, die ihre Liebsten verloren haben. Zeugen, die diese schockierenden Bilder nie mehr vergessen werden. Und Einsatzkräfte wie Krankenpflegerin Maria Miller und Chefärztin Dr. Sabine Merz, die an ihr Limit gegangen sind – und mit den Erlebnissen fertig werden müssen.
„Man blendet alles aus und funktioniert nur noch“
„Bei diesem Unfall waren die Abläufe anders als sonst“, erklärt Merz, die seit September als Chefärztin die neue Klinik für Akut- und Notfallmedizin am Medizin Campus Bodensee leitet. Normalerweise bringe der Rettungswagen oder Hubschrauber die Unfallopfer oder Notfallpatienten vorversorgt zu ihnen, dieses Mal seien sie alle unvermittelt zu Ersthelfern geworden. Für Merz, die viele Jahre als Notärztin in einem Hubschrauber tätig war, keine ungewohnte Situation. „In so einem Moment blendet man alles andere aus und funktioniert einfach nur noch nach eingeübten medizinischen Schemata“, sagt sie. Erstversorgung. Reanimation. Ab in den Schockraum.

Hier wisse jeder, was zu tun sei. ABCDE-Schema. „Dieser Algorithmus ist ein Leitfaden, nachdem wir bei Schwerverletzten prioritätenorientiert vorgehen“, erklärt sie. A airway (Luftwege) und B breathing (Atmung) haben Vorrang. Dann kommt C, der Kreislauf. Oft passiert aber auch alles parallel, denn im Schockraum arbeiten viele Ärzte und Pfleger gleichzeitig. „Es läuft meistens sehr ruhig ab. In einem gut eingespielten Team reichen Blicke, Gesten und jeder weiß, was er zu tun hat“, sagt Merz, selbst Internistin und Anästhesistin. Dennoch seien klare Ansagen und ein Teamleader notwendig, um die Arbeit und auch die Zeit im Blick zu behalten. „Zeit ist Leben!“, sagt Merz.
Erst wenn die akute Situation, also beispielsweise die Versorgung eines Schwerverletzten oder die Reanimation, vorbei sei, gebe es Luft und Raum für Gedanken und Gefühle. „Manche Mitarbeiter beginnen zu weinen, suchen Nähe und Trost. Andere ziehen sich zurück, sammeln sich erstmal“, sagt Merz. Im stark getakteten Alltag der Akut-und Notfallmedizin bleibt dafür allerdings nicht viel Zeit, denn der Arbeitstag geht ja weiter – so auch nach dem schweren Unfall am 7. Mai. Die Notaufnahme war voll, weitere Patienten mussten versorgt werden. „Es ist schon wichtig, ein solches Ereignis im Team nach zu besprechen und nach zu bearbeiten“, erklärt Merz, „aber an diesem Abend wollten alle erstmal nachhause.“
„Ich belaste meine Familie nicht mit meinen Beruf“

Maria Miller ist selbst zweifache Mutter. An dem Abend des 7. Mai kam sie zurück in ihre Familie, wissend dass eine andere Mutter von drei Kindern um ihr Leben kämpft. „Meine Gedanken kreisten um das Neugeborene und seine Mutter, meine Seele war erschüttert“, sagt sie mit leiser Stimme. Erst im vertrauten Umfeld im Gespräch mit ihrem Mann abends begann die 35-jährige Gesundheits- und Krankenpflegerin zu weinen.
„Ich habe schon viel gesehen in meinem Beruf und belaste meine Familie und vor allem die Kinder nicht damit“, sagt sie, „ich kann umschalten.“ Allerdings habe die tägliche Arbeit mit Schwerverletzten, darunter nicht selten Kinder, ihr eigenes Verhalten verändert. „Ich fahre extrem vorsichtig und umsichtig Auto und Fahrrad – und beharre da nie auf Vorfahrtsrechte, sondern bremse lieber ab. Ich weiß, dass es jeden Augenblick vorbei sein kann.“ Sie wisse das Leben sehr zu schätzen.
Verdrängung kann zu Stresssymptomen führen
„Als ich angefangen habe in diesem Beruf, war die Bewältigung solcher stark belastenden Erlebnisse überhaupt kein Thema. Da haben wir das alles allein mit uns herumgetragen und einfach immer weitergemacht“, sagt Chefärztin Merz, „aber die Verdrängung kann dazu führen, dass man irgendwann nicht mehr funktioniert und dann auch in Akutsituationen blockiert und in eine Schockstarre gerät.“ Nicht selten begleitet von Stresssymptomen wie Schlaflosigkeit, Alpträume, Zusammenbrüche, Burn-Outs.
Erst vor wenigen Jahren seien Nachbesprechungen, der Austausch und das Aufarbeiten mit Kollegen in den Fokus gerückt. „Ich halte das für extrem wichtig“, sagt Merz, „denn obwohl ich schon so lange in diesem Job arbeite, gehen mir viele Situationen sehr nah.“ Für Merz gab es bereits mehrere Situationen, die sie an Grenzen brachten. Auch wenn Kinder involviert sind, belaste sie das sehr. „Für mich ist es immer wichtig, gut vorbereitet und ausgebildet zu sein und im Team zu besprechen, was gut lief, was weniger und wie es den Mitarbeitern geht.“

Wenn Helfer Hilfe brauchen, kommt der Einsatznachsorgedienst
So kamen kurz nach dem schweren Unfall viele Kollegen zu einer Nachbesprechung zusammen. Merz und ihr Team hatten zum ersten Mal den Einsatznachsorgedienst (END) des Landkreises angefordert. Seelsorger der evangelischen und katholischen Kirchen und ehrenamtliche Kräfte der freiwilligen Feuerwehren, des Deutschen Roten Kreuzes und den Technischen Hilfswerken arbeiten in einem Kriseninterventionsteam zusammen und helfen Einsatzkräften bei der Verarbeitung besonders belastender Erlebnisse. „Das wurde angenommen“, sagt Merz.
Leben retten – das ist es, was Menschen wie Sabine Merz und Maria Miller antreibt. Doch, was, wenn es nicht gelingt? „Natürlich fragt man sich, warum man es in manchen Fällen nicht geschafft hat, das Leben eines Patienten zu retten“, sagt Merz. Wichtig sei, daran nicht zu verzweifeln, sondern zu wachsen. Sich selbst fort- und weiterzubilden und im Team auch schwierige Situationen und Abläufe am Phantom zu üben. Trost gebe der Gedanke, dass man gut vorbereitet sei und in einem guten ausgebildeten Team arbeite.