„Hotel ist dauerhaft geschlossen“ steht auf einem Schild an der Tür des Hotels „Goldener Hirsch“. Darunter ein weiteres Schild in kyrillischer Schrift. Hier leben seit mehr als einem Jahr rund 70 Geflüchtete. Ukrainer, Kinder, Frauen, teilweise mit ihren Männern.

„Eigentlich setzen wir auf die Strategie der dezentralen Unterbringung, also in Wohnungen im Stadtgebiet verteilt“, erläutert Stadtsprecherin Andrea Kreuzer bei einem Pressegespräch mit dem SÜDKURIER. „Um unserer Pflichtaufgabe gerecht zu werden, brauchen wir aber auch größere Unterkünfte“, ergänzt Hendrick Schwabe, Sachgebietsleiter öffentliche Sicherheit beim Amt für Bürgerservice, Sicherheit und Ordnung (BSO). So wie hier in der Charlottenstraße 1.
Ein kleines Mädchen läuft mit seiner Mutter die Treppe herunter. Es lächelt ein wenig schüchtern. Was dieses Kind wohl schon miterlebt hat in seinem Heimatland? Wie oft trocknet es die Tränen der Mutter?
Wo viele Menschen unter einem Dach leben, gibt es auch Konflikte. Wer putzt wie oft? Wie lange dürfen Kinder abends im Speisesaal toben? Eine Auswertung von Straftaten, die das zuständige Polizeipräsidium für den SÜDKURIER vorgenommen hat, zeigt: 2023 gab es hier – in der größten Anschlussunterbringung der Stadt – keinen einzigen Vorfall, der strafrechtlich relevant war.

Haris Mehmedovic vom Amt für Familie, Soziales und Jugend leitet seit einem Jahr die Unterkunft „Goldener Hirsch“. Auch das Haus in der Ailinger Straße 10 betreut er, wo knapp 40 weitere Ukrainer untergebracht sind. „Wir haben insgesamt fünf größere Unterkünfte als Anschlussunterbringungen in Friedrichshafen“, erklärt Mehmedovic.
„Wir lassen die Menschen hier nicht alleine“
Alle Häuser haben einen Leiter vor Ort, der sich kümmert. „Ich bin quasi das Mädchen für alles“, sagt Mehmedovic lachend. Ein Herd in der Gemeinschaftsküche geht nicht? Er ruft den Hausmeister. Jemand braucht Hilfe beim Schriftverkehr? Er vermittelt einen Integrationshelfer oder einen Sozialarbeiter. Manchmal schlichte er auch Streit, sagt er. „Ich kenne die einzelnen Schicksale der Menschen nicht. Ich sehe aber verstörte Kinder. Frauen, die weinen, weil vielleicht wieder ein Verwandter gefallen ist“, erklärt der Unterkunftsleiter. „Wir signalisieren diesen Menschen, dass wir da sind. Dass wir sie nicht alleine lassen. Nur so funktioniert Integration.“
„Die sollen da wieder hingehen, wo sie herkommen“, ruft ein Mann bei dem Infoabend zur Müllerstraße, wo bald eine neue Anschlussunterbringung entstehen soll. Die Stimmung ist aufgeheizt, AfD-Anhänger sitzen in den Reihen zwischen den verärgerten Anwohnern. Was passiert in der Nachbarschaft, wenn auf im Ex-Telekom-Büro bald Geflüchtete leben?
Ein Blick auf die Auswertung der Polizei zeigt: Die Anschlussunterbringungen sind nicht alle frei von Straftaten wie die Charlottenstraße 1. In der Ailinger Straße gab es 2023 eine Schlägerei zwischen Menschen, die in der Unterkunft leben. „Tagsüber, wenn wir vor Ort sind, ist da nichts, aber abends mit Alkohol, da kann es schonmal zum Streit kommen“, sagt Leiter Mehmedovic.
Der Sicherheitsdienst beschützt die Bewohner
In der Charlottenstraße und in der Ailinger Straße gibt es einen Sicherheitsdienst. „Hier wird das Innen vom Außen geschützt, nicht andersherum“, erläutert Schwabe. Wo vor allem Frauen und Kinder leben, sei das Schutzbedürfnis hoch. Sexualisierte Gewalt, vielleicht auch Rassismus, Betrunkene vor der Tür – Dinge, vor denen die Geflüchteten geschützt werden müssten. „In anderen Unterkünften haben wir keinen Nachtdienst, denn hier braucht es weder den Schutz von außen, noch muss jemand vor den Geflüchteten geschützt werden“, sagt Schwabe. Die Ängste der Anwohner sind also irrational? „Wir verstehen, dass es diese Sorgen gibt, aber sie sind unbegründet“, so der BSO-Mitarbeiter.
In den Anschlussunterbringungen, in denen Ukrainer leben, war es also ruhig. Was ist mit denen, in denen ausschließlich Männer leben? Die Zahlen der Polizei sprechen eine eindeutige Sprache. Auch wenn sie nur zeigen, was in diesem Jahr unmittelbar in den jeweiligen Unterkünften los war – und nicht außerhalb.
In der Bodenseestraße 102, wo elf Geflüchtete untergebracht sind, gab es in diesem Jahr bislang sechs strafrechtlich relevante Polizeieinsätze. In der Paulinenstraße 35 (23 Plätze) verzeichnet die Polizei etwa neun strafrechtlich relevante Einsätze. Im Wachirweg 10 (40 Plätze) sogar 20. Zu lesen sind Delikte wie Sachbeschädigung, Körperverletzung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Beleidigung, Betrug, Unterschlagung, Bedrohung, Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz. Kriminalität: Ja, die gibt es. Kriminalitätsschwerpunkt? Laut Polizei: nein.

„In den Unterkünften wohnen zahlreiche Menschen unterschiedlicher Herkunft zusammen. Wo Menschen auf engem Raum leben und wenig Perspektive in ihrer Situation haben, entstehen Reibereien und Spannungen. Deshalb finden Konflikte meistens unter den Bewohnern selbst statt“, erläutert Polizeisprecher Simon Göppert aus SÜDKURIER-Anfrage. „Es gibt Konflikte untereinander, aber nicht mit Anwohnern“, sagt Stadtsprecherin Kreuzer.
„Wir wollen keine Brennpunkte schaffen“
Das bestätigen auch Schwabe und Mehmedovic. „Wir wollen doch keine Brennpunkte schaffen, deshalb versuchen wir vorausschauend zu planen, möglichst dezentral, keine riesigen Einheiten. Aber wir dürfen nicht vergessen: Es ist unsere Pflichtaufgabe und es geht um Menschen“, sagt Schwabe. BSO-Sachbearbeiter, Sozialarbeiter, Integrationsmanager, Polizei – sie alle kümmern sich darum, dass Geflüchtetenunterkünfte in Friedrichshafen keine Kriminalitätsschwerpunkte sind – und auch künftig keine werden.