Die erste Forderung kam am 18. Januar, eine Strafzahlung über mehrere Tausend Euro. So empfindet es zumindest Katrin Wiesener. „Ich habe zu viel gearbeitet“, sagt die Immenstaader Hausärztin kopfschüttelnd. In vier Quartalen der Jahre 2021 und 2022, mitten in der Corona-Pandemie, habe sie zu viele Patienten behandelt. Dafür fordert die Kassenärztliche Vereinigung (KV) Baden-Württemberg einen Teil des gezahlten Honorars zurück. „Ich weiß noch nicht mal, ob der Regress pro Quartal oder in Summe gilt“, sagt die Medizinerin.

Schon der zweite Regress

Inzwischen liegt schon die nächste Androhung auf Regress auf dem Tisch. Auch in den ersten sechs Monaten 2023 habe sie ihr Zeitlimit überschritten, beklagt die KVBW die mangelhafte Einsicht der Ärztin in ihr Fehlverhalten. Schließlich habe sie nach der ersten Rückforderung Besserung gelobt. Katrin Wiesener lacht bitter: „Das erste Regressschreiben kam im August 2023. Da waren die beiden Quartale längst abgerechnet.“ Wie soll man rückwirkend sein Verhalten ändern?

Aktueller Aushang am Empfang in der Hausarztpraxis von Katrin Wiesener, um die Patienten zu informieren.
Aktueller Aushang am Empfang in der Hausarztpraxis von Katrin Wiesener, um die Patienten zu informieren. | Bild: Cuko, Katy

Jetzt hat sie reagiert, notgedrungen. „Aufgrund der von der Kassenärztlichen Vereinigung beanstandeten Arbeitszeit und Behandlung von Patientenzahlen pro Tag, bitten wir um Verständnis, dass es künftig zu längeren Wartezeiten auf Termine und mehr Praxisschließungen kommen wird“, informiert die Hausärztin auf ihrer Internetseite. Ihr bleibe gar nichts anderes übrig, als ihre Sprechstunden zu reduzieren.

Wie absurd das ist, zeigt ein Schreiben der KV Baden-Württemberg, das die Hausärzte vergangene Woche erhalten haben. Darin ist von „über 900 offenen Hausarztsitzen im Land“ die Rede. Verbliebene Praxen gelinge es zunehmend nicht mehr, Patienten aufzunehmen.

Zeitvorgaben für die Behandlung

Das Problem ist die Pauschalisierung. Jeder Patient muss mindestens zehn Minuten behandelt werden. Das Limit sind 780 Stunden Arbeit pro Quartal. Wer täglich im Schnitt zu viele Patientenkontakte hat, macht sich bei der KVBW verdächtig. Katrin Wiesener weist diesen unterschwelligen Vorwurf des Betrugs energisch und „guten Gewissens“ von sich. „Ich weiß, dass ich über dem Limit bin. Aber ich habe nichts abgerechnet, was ich nicht geleistet habe. Und ich will mich für meine Arbeitsweise nicht rechtfertigen müssen.“ Jetzt läuft bei jedem Patienten die Stoppuhr.

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Die Fachärztin für Allgemeinmedizin und Chirurgie erinnert sich an die Corona-Zeit. „Die Verunsicherung war groß. Ich war fast ständig in der Praxis, um den Patienten die Ängste zu nehmen“, erzählt sie. Wie oft habe sie sich mittags oder am Wochenende erkundigt, wie es Covid-Patienten geht. Sie schicke ohnehin niemanden weg, der mit einem Problem vor der Tür stehe. Die Ärztin zeigt auf den Sprechstundenplan. Wo morgens noch Luft für Akutfälle war, ist am Abend jedes Zeitfenster für einen Termin teilweise mit drei Namen bestückt.

Praxis am Limit

„Ich könnte jeden Tag fünf bis zehn neue Patienten aufnehmen. Aber meine Praxis ist schon lange am Limit“, sagt Katrin Wiesener. Das unbegrenzte Leistungsversprechen der Kassen kollidiere mit immer weniger Praxen, auch weil junge Ärzte zurückschrecken, eine zu übernehmen. Der Mangel führe zu Frust, wenn man im Ergebnis mehr arbeite und das auch noch bestraft wird. „Soll ich die letzten Patienten am Abend abweisen, weil mein Limit voll ist?“, fragt sie. Sie beklagt „mutlose, halbherzige Gesundheitsreformen“ und eine überbordende Bürokratie und wünscht sich, von der Kassenvereinigung nicht auch noch gegängelt zu werden.

Eine Ärztin horcht eine Patientin ab. Kann man zu viel Zeit für die Patienten aufwenden?
Eine Ärztin horcht eine Patientin ab. Kann man zu viel Zeit für die Patienten aufwenden? | Bild: Christin Klose

Übrigens: Seit Anfang März soll Katrin Wiesener auch für die Verordnung eines Medikaments Strafe zahlen. Ihr Vergehen: Sie hat einer schwer kranken Patientin aus Friedrichshafen ein Folgerezept ausgestellt. Das darf nur der behandelnde Arzt, für den sie in der Urlaubsvertretung eingesprungen ist.

Warum wird ein Hausarzt für ein Rezept in Regress genommen? Die Frage sei „so nicht zu beantworten“, da es auf den Einzelfall ankomme, schreibt Kai Sonntag, Pressesprecher der Kassenärztlichen Vereinigung in Stuttgart, auf unsere Anfrage. Er verweist auf Regelungen des Gesetzgebers und dass die Ärzte „zu einer wirtschaftlichen Handlungsweise angehalten“ seien. Für die Prüfung der Verordnungen sei auch nicht die KV allein zuständig, sondern ein Gremium zusammen mit den Kassen, die sogenannte Arbeitsgemeinschaft Wirtschaftlichkeitsprüfung.

KV spricht von Plausibilitätsprüfung

Warum die KV überhaupt Honorar von Katrin Wiesener zurückfordert, kann der Pressesprecher nur allgemein beantworten. Er verweist darauf, dass Abrechnungen auf ihre Plausibilität geprüft werden. „Wenn eine Leistung statistisch häufig abgerechnet wird, wird überprüft, ob diese Zeitwerte überhaupt plausibel sind“, so Kai Sonntag. Dann kann der Arzt dazu Stellung nehmen. Im Fall von Katrin Wiesener wurde danach trotzdem „die Abrechnung korrigiert“. Ein Regress sei das nicht. Selbstverständlich könne der Arzt dem widersprechen und gegebenenfalls auch dagegen klagen.

Katrin Wiesener will auch zur zweiten Beanstandung ihrer Abrechnung Stellung nehmen. Halte die KV trotzdem am Regress fest, werde sie nur noch Privatpatienten behandeln. Dann stehen rund 1200 Kassenpatienten, die sie betreut, ohne Arzt da.