Zwölf Stunden arbeitet Kinderarzt Stefan Röser jeden Tag. An manchen Tagen wahrscheinlich auch bis zur Erschöpfung. Seine Praxis in Schwenningen ist seit Jahren komplett überlaufen. Dennoch sagt er: „Ich schicke kein fieberndes Kind weg.“ Er ist Arzt mit Leib und Seele. Und genau das wurde ihm jetzt zum Verhängnis.
Vor drei Wochen bekam er einen Brief von der Kassenärztlichen Vereinigung. Darin hielt man es nicht für plausibel, dass er Anfang 2020 an mehreren Tagen über zwölf Stunden gearbeitet hätte. 10,2 Stunden pro Tag sind laut KV nur zulässig. Dafür soll er in Regress genommen werden. Oder eben die Zeiten kürzen. Keines davon will er. Keines kann er.

130 Kinder hatte er diesen Mittwoch, 110 am Donnerstag. „Das mach‘ ich nicht in 10,2 Stunden täglich.“ 2000 Behandlungsscheine stellt er im Schnitt pro Quartal aus. Das kaum stemmbare Patientenaufkommen, mehrmals habe er das an die KV gemeldet. „Die haben mir auf die Schulter geklopft und gesagt: ‚Danke fürs Durchhalten.‘“
Reaktion der Vereinigung bleibt aus
Umso fassungsloser machte ihn eben jener Brief. Er hat der Kassenvereinigung geschrieben, dass er kündigen werde, wenn sie die Strafzahlungen durchziehen. Es kam keine Reaktion. Also reagierte Röser. Per Einschreiben kündigt er seine Verträge diese Woche. Anders, sagt er, sehe er keine Basis mehr. „Da fahr‘ ich gegen die Wand.“
Am 31. März 2024 laufen die Verträge aus. Seine Praxis will er dann nur noch als freie Praxis weiterführen. „Ohne Kassenbindung“ wird dann ab April auf seinem Türschild stehen.
Das sind die Folgen für die Patienten
Was das für die Patienten bedeutet: Wer will, dass seine Arztkosten von der Krankenkasse getragen werden, muss zu einem Kassenarzt gehen. Hat der Arzt keine kassenärztliche Zulassung, muss der Patient die Kosten für die Behandlungen selbst tragen. Eine Beteiligung wird die Krankenkasse bei gesetzlich Versicherten in der Regel ablehnen.
Es gibt kein Zurück mehr
Das Telefon steht nicht still in der Praxis. „Können wir dann noch kommen?“, ist die häufigste Frage der Patienten. „Es tut mir weh, wenn ich das höre“, sagt Röser. Er will keine Zwei-Klassen-Gesellschaft. Allen, das weiß er jetzt schon, wird er sicher keine Rechnung stellen können.
Ob er noch einmal umschwenken würde, wenn die KV einlenkt? „Nein“, sagt er prompt. Eine Extrabehandlung, nur damit er den Mund hält, das will er nicht. „Es ist ein systemisches Problem.“
Seit 20 Jahren hat er die Praxis in der Alleenstraße. Er sagt: „Ich kann mir das doch gar nicht vorstellen, ohne meine Kinder.“
Das sagt die Kassenärztliche Vereinigung
Von der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg war bis zur Fertigstellung des Artikels keine Stellungnahmen zu erhalten.
Auf dem Papier, so heißt es in der KV auch bereits bei früheren Anfragen zu Fach- und Kinderärzten, sei die Region überversorgt. Ob das auch noch gilt, wenn die Praxis von Stefan Röser wegfällt, auch dazu gab es bislang keine Antwort von der KV.
OB will ein MVZ für Villingen-Schwenningen
Auch in der lokalen Politik schlägt der Vorfall Wellen. SPD-Stadtrat Nicola Schurr fordert in einem offenen Brief, eine gemeinsame Lösung mit der KV für das Kinderarzt-Problem in der Region anzustreben.
OB Jürgen Roth begrüßt den Vorschlag von Schurr ausdrücklich und sagt auf Nachfrage: „Der sich immer weiter zuspitzende Ärztemangel in VS liegt mir schon länger wie ein Kloß im Magen, weshalb ich mich aktiv für ein Medizinisches Versorgungszentrum in VS stark mache. Wir sind bereits im Prozess und Gespräche dazu laufen.“
Auch er kann nicht nachvollziehen, dass ein Kinderarzt dafür bestraft werde, weil er zu viel arbeite. „Ich bedauere es sehr, dass sich Herr Doktor Röser zu so einem Schritt gezwungen sieht.“
Neue Patienten können nicht aufgenommen werden
Unterstützung für seine Entscheidung bekommt Röser auch von Kollegen. Johannes Schelling ist Kinderarzt in Schramberg und sagt: „Seinen Schritt finde ich sehr mutig und er ist folgerichtig.“ Und er fügt hinzu: „Auch ich kann mir aktuell nicht vorstellen, unter den gegenwärtigen Bedingungen langfristig weiterzuarbeiten.“
Vier Kinderärzte sind in den vergangenen Jahren aus der Versorgung herausgefallen. Keiner wurde ersetzt. Schelling ist einer der Ärzte, die das ausbaden müssen. Von den Familien ganz zu schweigen.
„Anfangs haben wir schon versucht, Patienten von diesen Kollegen unterzubringen. Daher habe ich auch eine weit überdurchschnittliche Fallzahl“, sagt Schelling. „Inzwischen arbeite ich an meiner Belastungsgrenze.“
Neue Patienten könne er nur noch sehr selektiv aufnehmen. Das gilt auch für Neugeborene.
Was Rösers Entscheidung für ihn bedeutet? Die Antwort, die Schelling gibt, ist bezeichnend für die desolate Situation. „Die Schließung der Praxis Röser ändert nichts für mich. Ich kann nicht mehr arbeiten. Für die Familien in der Region ist es eine weitere Katastrophe.“