Große Anspannung am Landgericht Ravensburg: Mit etwa zehn Minuten Verspätung hat heute der Prozess gegen den mutmaßlichen Supermarkterpresser von Friedrichshafen begonnen. Mit gesenktem Kopf betrat der 54-Jährige am Morgen den Gerichtssaal.
Sein Verteidiger bezweifelte zu Beginn seine Verhandlungsfähigkeit, weil sein Mandant seit Tagen nichts gegessen habe. Der Richter lehnte dies ab, da es ausreichend Pausen geben werde. Auch die später von der Verteidigung beantragte Aussetzung des Verfahrens aufgrund geänderter Voraussetzungen lehnte das Gericht ab. Richter Maier hatte zu Beginn des Prozesses gesagt, dass neben dem Vorwurf des versuchten Mordes auch der Tatbestand der Räuberischen Erpressung mit Todesfolge in Betracht kommen könnte. In der Anklageschrift war bisher „nur“ von schwerer räuberischen Erpressung die Rede gewesen.
Angeklagter gesteht Babybrei-Vergiftung
In einer schriftlichen Stellungnahme, die sein Anwalt verlas, gab der Angeklagte zu, die fünf Babygläschen mit Gift versetzt zu haben. Er sei allerdings davon ausgegeangen, dass diese niemals gefunden werden würden, da er sie samstags nachmittags in die Läden gestellt habe – eine Zeit, in der Familien nicht mehr einkaufen würden.
Zudem habe er die Gläschen in die hinteren Reihen gestellt und sogleich das BKA darüber informiert. Daher wolle er nicht als Mörder verurteilt werden. Er habe auch nicht gewusst, dass die Menge des Giftes, das er in die Gläschen getan habe, für Säugling oder Kleinkinder tödlich sei.
Er gab auch zu, Geld erpressen zu wollen und die größtmögliche Aufmerksamkeit zu erregen. „Ich habe aus Verzweiflung gehandelt“, so der 54-Jährige. Er entschuldigte sich bei der Öffentlichkeit, bei allen Anwesenden und allen Eltern, die in großer Sorge um ihre Kinder gewesen seien.
Hoher Druck auf Ermittlungsbeamte
Nach der Verhandlungspause am Mittag befragte das Gericht mehrere Kriminalbeamte, die nach dem Eingang des Erpresserschreibens für die Sicherung der Babygläser in den Friedrichshafener Supermärkten eingesetzt worden waren. Sie berichteten, wie sie am Sonntag, 17. September in den verschiedenen Filialen von Aldi, Lidl, Edeka, Rewe und Müller die betroffene Ware sicherstellten. Ein Beamter schilderte, wie hoch der Druck auf die Polizei damals war. „Wir wussten genau, dass wir die vergifteten Gläser unbedingt finden mussten. Denn ein einziges würde reichen, um für ein Kind tödlich zu sein.“
Am Schluss des Verhandlungstages beantragte der Verteidiger des Angeklagten, weitere Zeugen zu laden. So sollen nun auch die Ärzte aus dem Universitätsklinikum Tübingen und des Robert-Bosch-Krankenhauses in Stuttgart vor Gericht aussagen. Sie hatten dem 54-jährigen Angeklagten 2016 eine Borderline-Störung attestiert. Die Verhandlung wird am Dienstagmorgen am Landgericht Ravensburg fortgesetzt.
Wer ist der mutmaßliche Supermarkterpresser?
Der 54-jährige erschien vor Gericht mit verbundenen Handgelenken. Er trug einen blauen Pulli, darunter ein weißes Hemd. Beim Prozessauftakt machte er sich immer wieder Notizen und verfolgte die Verhandlung genau. Auch bei der Vorführung der Beweisvideos, die ihn in verschiedenen Supermärkten beim Auslegen der vergifteten Gläschen zeigten, schaute er genau zu. Nur ab und an zeigte er eine Regung - den Augenkontakt mit dem Publikum vermied er.
Über sein Leben sagte er in der schriftlichen Stellungnahme aus, dass er 1963 als zweiter Sohn seiner Eltern, die einen Edeka-Laden betrieben, geboren wurde. Er hatte einen geistig behinderten Bruder, um ihn habe sich in seiner Kindheit und Jugend niemand gekümmert.
Seine Eltern stellten schon früh hohe Erwartungen an ihn, so sollte er eines Tages den Laden übernehmen. Weil er den Erwartungen seiner Eltern nicht entsprechen konnte, habe er schon sehr früh Probleme gehabt.
Als 12-Jähriger wog er bereits 103 Kilogramm, weil er aus Verzweiflung nur noch Süßigkeiten gegessen habe.
In der Schule gemobbt
Er sei in der Schule gemobbt worden und hatte keine Freunde. Seine einzige Bezugsperson sei eine Cousine gewesen, die sich allerdings das Leben nahm, als er Teenager war. Sein Vater zwang ihn, eine Lehre als Einzelhandelskaufmann zu beginnen, doch er habe seinem Vater nie etwas recht machen können. „Ich bin im zweiten Lehrjahr dann von zu Hause abgehauen“, so der Angeklagte in seiner schriftlichen Stellungnahme.
Seine Lehre beendete er bei Stuttgart. Seine Eltern starben früh, danach habe er allein für sich sorgen müssen.
2015 wurde bei ihm eine Borderline-Störung attestiert, es folgten Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken. 2008 begann er eine Beziehung mit einer Frau, die für ihn „der Mensch seines Lebens“ sei. Diese habe ihn aber schließlich um seine Reinigungsfirma betrogen, die er zwischenzeitlich erfolgreich aufgebaut habe.
„Ich wollte erwischt werden“
Er hatte sie als Gesellschafterin eingesetzt, da er einen zu hohen Schuldenstand gehabt habe. Schließlich habe sie ihm nach Beendigung der Beziehung gekündigt, danach sei sein Leben zerstört gewesen. „Da ist meine Welt endgültig zusammen gebrochen“, so der Angeklagte, denn die Frau habe ihm sein Lebenswerk genommen.
Danach habe er von Hartz 4 gelebt, habe begonnen, täglich eine Flasche Gin und eine Flasche Rosé zu trinken, wurde medikamentenabhängig und hatte keinerlei Bezugspersonen mehr. Nur sein Hund habe ihm noch Halt gegeben. Schließlich habe er den Plan entwickelt, mit dem vergifteten Babybrei Geld zu erpressen. „Ich wollte aber erwischt werden“, so der Angeklagte.
Daher sei er auch nicht abgehauen, als die Fahndung nach ihm begann. „Ich möchte ein gerechtes Urteil, aber ich möchte nicht zum Mörder abgestempelt werden“, heißt es abschließend in seiner Stellungnahme.
Säuglinge wären qualvoll gestorben
Oberstaatsanwalt Peter Vobiller hatte zuvor die Taten des 54-jährigen Angeklagten aufgelistet – so hatte er am 16.9.2017 in insgesamt fünf Supermärkten in Friedrichshafen verschiedene Babygläschen ausgelegt, die jeweils mit einer tödlichen Menge Ethylenglykol versetzt waren, etwa ein Glas Biobuttergemüse mit Hühnchen in einem Aldi-Markt.
Weitere betroffene Handelsketten waren Lidl, Müller, Edeka und ein Rewe-Markt. „Alle diese Gläser enthielten eine tödliche Dosis des Giftes“, so der Oberstaatsanwalt. Er erläuterte, dass Säuglinge oder Kleinkinder, die ein solches Gläschen gegessen hätten, qualvoll gestorben wären.
„Das Gift führt nach etwa 70 Stunden nach der Einnahme zu einem Nierenversagen“, so der Staatsanwalt. Der Angeklagte habe die Wehrlosigkeit der Kinder in gefühlloser Weise ausgenutzt, sei heimtückisch und grausam vorgegangen, um sich selbst zu bereichern.
Leitender Ermittler sagt als erster Zeuge aus
Der Leiter der Ermittlungen in Friedrichshafen sagt als erster Zeuge aus. Die Polizei habe noch am 16. September 2017 damit begonnen, in zehn Supermärkten in Friedrichshafen nach den vergifteten Baybgläschen zu suchen, kurz nachdem die Erpresser-Email eingegangen war.
„In fünf von zehn Märkten haben wir schließlich die Gläser gefunden“, so der Kriminalbeamte. Allerdings dauerte die Suche etwa beim Edeka-Markt lange, dort stand das mit Gift platzierte Glas fast 30 Stunden lang im Regal.
Die Polizei fand auf einem der Gläser DNA-Mischspuren, zudem wurden die Überwachungskameras der betroffenen Supermärkte ausgewertet. „Schnell haben wir den Erpresser auf diesen Aufnahmen entdeckt.“
Bei der Überprüfung der Email-Adresse durch die Polizei wurde herausgefunden, welches Handy genutzt wurde und dass dieses mit zwei SIM-Karten aus Österreich betrieben wurde.
„Er hat mit uns nicht zusammengearbeitet“
Nach der Öffentlichkeitsfahndung habe es viele Hinweise aus der Bevölkerung gegeben, vor allem aus dem Raum Nürnberg. Es waren Anrufer dabei, die den Angeklagten persönlich kannten. Schließlich sei es der Polizei gelungen, den Angeklagten in seiner Wohnung festzunehmen. Er wurde zunächst nach Tübingen gebracht, wo DNA-Proben genommen wurden, dann nach Friedrichshafen. Dort habe er zu Kollegen gesagt: „Glauben Sie, dass jetzt der Alptraum vorbei ist?“, berichtete der Kriminalbeamte.
Bei den Vernehmungen durch die Polizei äußerte sich der Angeklagte allerdings nicht zur Sache und wollte auch nicht sagen, ob es weitere vergiftete Gläschen gäbe. „Er hat mit uns nicht zusammengearbeitet. Wir hatten den Eindruck, dass er das richtig genossen hatte, dass wir ihn befragten“, so der Kriminalbeamte vor Gericht. Erst beim Haftrichter habe er ein Kurzgeständnis abgegeben,
Der Ermittler berichtete auch von den polizeilichen Durchsuchungen der Wohnung des Angeklagten. Im Keller sei in einer Kiste eine 0,5 Liter PET-Flasche gefunden worden, das mit dem Gift Ethylenglykol gefüllt war. „Auffallend war, dass genau die Menge darin fehlte, die in den fünf Gläschen gefunden worden war“, erläuterte der Zeuge. Die Ermittlungen ergaben, dass der Angeklagte das Gift im Juni 2017 bei Amazon bestellt hatte. In der Nähe der Wohnung wurde in einem Altkleider-Container der Laptop, die Tasche und Schuhe des Täters gefunden. An allen Asservaten seien DNA-Spuren vom Täter festgestellt worden.
Verspäteter Prozessauftakt
Zum Prozessauftakt vor einer Woche war der Angeklagte nicht verhandlungsfähig gewesen, weil er sich in seiner Zelle verletzt hatte. Um zu vermeiden, dass er sich wieder selbst verletzt, wurde der 54-Jährige in einem kameraüberwachten Haftraum untergebracht, wie der Leiter der Justizvollzugsanstalt Ravensburg, Thomas Mönig, sagte.
Der Mann war laut Anstaltsleiter am vergangenen Montag bei einer Morgenkontrolle mit Schnittwunden am Unterarm gefunden worden. Eine lebensbedrohliche Situation habe nicht bestanden. Es sei unsicher, mit welcher Intention der Gefangene gehandelt habe.
Der 54-Jährige soll vor rund einem Jahr versucht haben, 11,75 Millionen Euro von verschiedenen Handelsunternehmen zu erpressen. Nach seiner Festnahme im Herbst 2017 hatte er zugegeben, fünf vergiftete Gläser mit Babynahrung in Supermärkten in Friedrichshafen am Bodensee platziert zu haben. Nach Angaben des Gerichts wird ihm versuchter Mord in fünf Fällen, versuchte besonders schwere räuberische Erpressung in sieben Fällen und gemeingefährliche Vergiftung vorgeworfen.
(Mit Material von dpa)