Auf dem Markdorfer Kirchplatz bei der Linde am Fuß von St. Nikolaus haben sich etliche Dutzend Menschen in kleinen Grüppchen zusammengefunden. Das Licht von Handy-Lampen macht die ausgeteilten Liedtexte lesbar, die Menschen singen mit. Sie haben sich hier zum Abschluss von Markdorfs erster „Langen Nacht der Demokratie“ zusammengefunden, nach einem Auftakt in der St.-Nikolaus-Kirche, nach einem Vortrag im Bürgertreff Ulrich 5 und nach einer moderierten Gesprächsrunde mit Zeitzeugen.
Die lange Nacht der Demokratie am Vorabend des Tags der Deutschen Einheit soll daran erinnern, erstmals nun auch in Baden-Württemberg, dass Demokratien nicht vom Himmel fallen, sondern mühsam errungen müssen. Und dass demokratische Werte fortwährend gegen die Anfeindung durch Gegner von Meinungsvielfalt und Meinungsfreiheit geschützt werden müssen.
Pfarrer Tibor Nagy stimmt den Song „Imagine“ von John Lennon an, gemeinsam mit Sabine Herzog. Eigentlich könne er die Sichtweise John Lennons ja nicht teilen, hatte Nagy vorher erklärt. Denn Lennon wende sich in „Imagine“, seinem Lied über den Traum von Völkerfreundschaft, Gerechtigkeit und Frieden, ausdrücklich gegen die politischen, aber auch gegen die religiösen Verführer.
Übersetzt heißt es im Lied: „Stell‘ dir vor, da gäbe es kein Himmelreich, und auch keine Religionen. Stell dir all die Völker vor, die in Frieden miteinander leben würden.“ Es war wohl dieser Teil von John Lennons Traum, der Tibor Nagy dazu bewog, seinen inneren Widerstand gegen Passagen des Textes zu überwinden.
Grünen-Stadträtin berichtet von Zorn und Ängsten der Menschen
In einem Impulsvortrag im Ulrich 5 hatte Sabine Gebhardt davon gesprochen, welche Rolle die Vielfalt der Argumente und Empfindungen jedes Einzelnen für den politischen Prozess in der Gemeinde spiele, ja in der Politik insgesamt. Die Markdorfer Grünen-Stadträtin erklärte, sie sei im zurückliegenden Kommunalwahlkampf auf das Thema gekommen. Menschen seien ihr als Grünen-Kandidatin zum Teil mit überraschend starken Emotionen, sogar mit kaum verhohlener Feindschaft entgegengetreten. „Ich habe mich gefragt: Wo kommen all dieser Zorn, aber auch all diese Ängste her?“ Die praktizierende Achtsamkeitstrainerin riet zu größerer Aufmerksamkeit für die vielen unterschiedlichen Regungen im eigenen Gemüt, in Kopf und Herz und Bauch.
Tipps zum Umgang mit der Vielfalt der inneren Stimmen
Sabine Gebhardt erklärte: „Nur wer seine Emotionen erkennt, der kann sie im nächsten Schritt auch regulieren.“ Das sei nötig, wenn wechselseitiges Verständnis und Lösungen gesucht werden müssen, um gemeinsame Aufgaben zu bewältigen. Ohne die Fähigkeit, eigene innere Konflikte zu bewältigen, könne sich keine Toleranz anderen gegenüber entwickeln, also auch keine Demokratie.
Karl King, einer der vielen Zuhörer, meinte im Anschluss an den Vortrag von Gebhardt: „Das hat bei mir ganz viel ausgelöst.“ Er fügte an: „Ich glaube, ich werde in Zukunft anders diskutieren.“ Ähnlich überzeugt zeigte sich Doris Käser: „Für mich klang das sehr stimmig, was Sabine Gebhardt über die innere Stimmenvielfalt und das bessere Umgehen damit gesagt hat.“
Zeitzeugen berichten von ihren Erfahrungen
Sabine Gebhardt hatte auch angesprochen, dass Schulen ein geeigneter Lernort für die innere Konfliktaustragung sein könnten. Christa Emmans, pensionierte Latein- und Englischlehrerin, deutete in der Zeitzeugenrunde in der Mittleren Kaplanei an, wie sehr das Markdorfer Bildungszentrum in seinen Anfangsjahren als ein solcher Lernort der Vielstimmigkeit gedacht war. Unterricht über die Schularten hinweg habe zu den Wunschvorstellungen zu Beginn der 1970er-Jahre gehört.

Sabine Große hingegen schilderte aus ihrer Kindheit in der DDR, dass Schule kein Lernort für eine echte Demokratie sein könne. Und Ferhat Cicek, in Deutschland aufgewachsener Sohn kurdischer Flüchtlinge, berichtete, wie er bei einem Verwandtenbesuch in Südostanatolien von türkischen Soldaten beschossen wurde.